Der südafrikanische Künstler William Kentridge (*1955 in Johannesburg) zählt zu den meistbeachteten Künstlern unserer Zeit. Das Museum Haus Konstruktiv zeigt die erste umfassende Einzelausstellung dieses Ausnahmekünstlers in der Schweiz. Im Fokus steht dabei der multimediale Werkzyklus »The Nose«, der auf Nikolai Gogols surrealistischer Kurzgeschichte »Die Nase« von 1836 basiert.
2006 erhielt William Kentridge von der Metropolitan Opera in New York den Auftrag, die gleichnamige Oper von Dmitri Schostakowitsch (uraufgeführt 1930 in Leningrad) zu inszenieren. In diesem Zusammenhang entstand eine Reihe von Werken, die sowohl der bildenden Kunst als auch dem Schauspiel und dem Film zugeordnet werden können. Das Museum Haus Konstruktiv zeigt neben der gross angelegten Videoinstallation »I am not me, the horse is not mine«, die u.a. 2012 in der Tate Modern in London zu sehen war, bisher kaum bekannte Zeichnungen, Druckgrafiken, Malereien, Skulpturen und Tapisserien. Kentridge selbst bezeichnet den Werkkomplex als Elegie auf die künstlerische Sprache der russischen Konstruktivisten und deren Impulse für eine gesellschaftliche Transformation.
In Gogols Erzählung muss der St. Petersburger Kollegienassessor Kowalow eines Morgens feststellen, dass seine Nase verschwunden ist. Erschrocken bricht er auf, sie wiederzufinden. Er läuft durch die Strassen der Stadt, entdeckt seine Nase und folgt ihr bis in eine Kathedrale. Als er sie anspricht, weist sie ihn ab. Überdies trägt sie die Uniform eines Staatsrates und ist somit im politischen System höher gestellt als Kowalow selbst. Auch als die Nase auf dem Weg nach Riga festgenommen und an ihren Eigentümer ausgehändigt wird, erweist sie sich als widerständig. Eines Morgens aber wacht Kowalow auf, und seine Nase ist wieder an ihrem angestammten Platz.
Das Absurde wird in Gogols Erzählung zur Normalität und auch als solche behandelt. Schostakowitsch greift die Geschichte nicht zuletzt deswegen auf – und wegen ihres Potenzials, als ein Zustandsbild Russlands Ende der 1920er Jahre gelesen zu werden. Seit 1917 organisierten sich russische Künstler in verschiedenen Vereinigungen, um sich gegen den vorherrschenden Akademismus zu stellen. Ihre Begeisterung für die Revolution war durchzogen von der Hoffnung auf eine Befreiung des Menschen vom alten System. Für die als futuristisch, konstruktivistisch oder suprematistisch bezeichneten Künstler kam nur eine vom Gegenstand gelöste oder vollends autonome Kunst in Frage, denn nur sie konnte die neuen gesellschaftspolitischen Ideen verkörpern, ohne auf etwas anderes, ausserhalb des Werkes Existierendes, zu verweisen. Gegenstandslose Kunst konnte weder Metapher noch Allegorie sein. Man sprach von einer »reinen« Kunst, die aus ihren eigenen Mitteln entstand. Damit war der politischen Revolution eine formale zur Seite gestellt.
William Kentridge greift in »The Nose« auf die konstruktivistische Formensprache und auf die gesellschaftspolitischen Entwicklungen im damaligen Russland zurück. Er macht sie zum Kernthema seiner künstlerischen Auseinandersetzung und erforscht eine von Aufbruch geprägte Zeit, die mit Stalins Machtübernahme ein jähes Ende fand.
Kentridges Œuvre ist auch für seine politische Dimension bekannt. Aufgewachsen im Südafrika der Apartheid und mit einem Vater, der als Anwalt Nelson Mandela vertreten hat, sind ihm sozialpolitische Umwälzungen, Aufstände und Menschenrechtsanliegen sowie die Verflechtung von Politik und Kunst durchaus vertraut. Die kulturellen und politischen Umwälzungen Russlands vor und nach der Revolution sind für ihn auch vor diesem Hintergrund von Interesse.
Mit seinen teils animierten Zeichnungen, seinen Filmen und Theaterproduktionen fasziniert Kentridge die Kunstwelt seit vielen Jahren. Ihn im Museum Haus Konstruktiv zu zeigen, ist eine Premiere in mehrfacher Hinsicht: Anlässlich seines 60. Geburtstags widmen wir ihm die erste Einzelausstellung in der Schweiz. Mit seinem Werkzyklus werfen wir einen Blick auf eine Epoche, die den russischen Konstruktivismus hervorbrachte, der wiederum den Zürcher Konkreten als Referenz und Vorbild diente.
Zur Ausstellung erscheint ein Katalog mit Essays von William Kentridge, Jane Taylor und Sabine Schaschl im Verlag der Buchhandlung Walther König. Erhältlich im Museumsshop.
William Kentridge studierte »Politics and African Studies« an der University of the Witwatersrand in Südafrika (B.A. 1976); darauf folgten ein Kunststudium an der Johannesburg Art Foundation (1976–1978) sowie ein Theater- und Schauspielstudium an der École Internationale de Théâtre Jacques Lecoq in Paris (1981/1982).
Ausstellungstätigkeit seit 1979. Seit Mitte der 1970er Jahre agiert Kentrigde auch als Schauspieler, Bühnenbildner und Regisseur von Theater- und Opernproduktionen. 1988 war er Gründungsmitglied der »The Free Filmmakers Cooperative«. Zahlreiche Teilnahmen an internationalen Biennalen, u.a. in Venedig 1993, 1999, 2005 und 2015 sowie an der documenta X, XI und XIII. Er wurde ausgezeichnet mit dem Kyoto-Preis (2010), dem Oskar- Kokoschka Preis (2008), dem Goslarer Kaiserring (2003), dem Carnegie International Award (2000), dem Standard Bank Young Artist Award (1987) und dem Red Ribbon Award for Short Fiction (1982). Zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen, u.a. im San Francisco Museum of Modern Art (2009), in der Tate Modern, London (2012), im Louvre, Paris (2010), im Centre Pompidou, Paris (2002), im Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, Washington D.C. (2002) und im Palais des Beaux-Arts, Brüssel (1998).