Die große Sonderausstellung »[un]erwartet. Die Kunst des Zufalls« untersucht erstmalig, welche wegweisenden Methoden Künstlerinnen und Künstler erfunden haben, um den Zufall auszuloten und innerhalb eines Werkprozesses kalkuliert einzusetzen. Rund 140 Werke zeigen auf, welche experimentellen Ansätze sie dabei verfolgt haben und welche Ordnungen unter dem Einfluss des Zufälligen entstanden sind. Der Bogen, den die Ausstellung schlägt, geht zurück bis in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts. Schwerpunkte liegen auf der Konkreten Kunst der 1960er und 1970erJahre sowie auf der zeitgenössischen Kunst und deren Beschäftigung mit den erkenntnistheoretischen Aspekten des Zufalls. Die Ausstellung thematisiert außerdem die Bedeutung des Zufalls in Literatur und Musik.
Kaum ein anderes Phänomen ist in unserem Leben so allgegenwärtig und doch nur schwer zu fassen wie der Zufall. Er steht für das Unerklärliche, Unwahrscheinliche und Nichtvorhersehbare, das scheinbar überraschend eintritt und widersprüchliche Gefühle auslöst: Zufällige Ereignisse können Chancen eröffnen, aber auch Befremden auslösen, weil sie Unsicherheiten bedeuten.
»Gott würfelt nicht« – dieser Ausspruch stammt von Albert Einstein, der sich nicht vorstellen konnte, dass Vorgänge in der Natur planlos ablaufen sollten. Inzwischen ist unbestritten, dass der Zufall in alle Bereiche des Lebens mit hineinwirkt. In der Natur selbst, in Biologie, Geschichte, Philosophie und Literatur – überall ist der Zufall als verändernde Macht am Werk. Insbesondere die Naturwissenschaften haben sich mit großem Ehrgeiz an die Erforschung des Zufalls gemacht. So etwa die Mathematik, die bereits im 18. Jahrhundert mit der Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung seinen Gesetzmäßigkeiten auf die Spur kam; oder die Physik, die in Versuchsanordnungen den Zufall überlistet, indem sie ihm die Möglichkeit zur Entfaltung gibt. Auch in der Kunst wird der Zufall als kreatives, gestaltgebendes Moment seit rund hundert Jahren genutzt. Künstlerinnen und Künstler erfanden unterschiedliche Methoden, um den Zufall herauszufordern. So gelingt es ihnen bis heute, durch geplante Zufälle künstlerisches Neuland zu betreten.
Der Zufall ereignet sich zwischen Ordnung und Chaos im Wechselspiel aufgestellter Regeln und unerwarteter Störungen. Ein wesentlicher Beweggrund der Künstlerinnen und Künstler, mit dem Zufall zu arbeiten, liegt in dem Bedürfnis, den subjektiven Blick auszuschalten, um auf diese Weise zu objektiveren Lösungen zu gelangen. Es ist bezeichnend, dass einige der in der Ausstellung gezeigten Künstler ihre beruflichen Wurzeln in der Wirtschaft und (Natur)Wissenschaft haben. George Brecht etwa war Chemiker, Gerhard von Graevenitz studierte zunächst Wirtschaftswissenschaften, herman de vries war in der biologischen Feldforschung tätig.
Die Beschäftigung mit dem Zufall unter dem Gesichtspunkt von Ordnung und Chaos hat in Stuttgart Vorläufer. 1978 behandelte eine von der Galerie Müller-Roth im Landespavillon organisierte Ausstellung das Verhältnis von »System + Zufall«. Zentrale Werke von herman de vries oder Manfred Mohr, die damals gezeigt wurden, sind jetzt im Kunstmuseum Stuttgart wiederzuentdecken. Zu denken sind auch an die ästhetisch-mathematischen Versuchsanordnungen der sogenannten »Stuttgarter Schule« um den Philosophen Max Bense, der an der Technischen Universität Stuttgart lehrte. Bereits Ende der 1950erJahre hat Bense mit seinem Konzept einer informationstheoretischen Ästhetik den Zufall in einen Zusammenhang mit Literatur und Kunst gebracht.
Die Konzeption der Ausstellung nimmt ihren Ausgang von Werken der Konkreten Kunst aus der seit 2009 im Kunstmuseum Stuttgart beheimateten Sammlung Teufel. Recherchen im Archiv Baumeister haben »Cadavre exquis« – ein beliebtes Gesellschaftsspiel, bei dem verschiedene Teilnehmer Teile von Figuren verdeckt auf ein Blatt zeichnen – und Collagen von Willi Baumeister (1889–1955) und Franz Krause (1897–1979) zutage gefördert, die nun erstmals zu sehen sind. Eine Wiederentdeckung der besonderen Art ist die komplexe Installation »Compositon trouvée (Stuttgart Souvenir Shop)« (1990) von Guillaume Bijl (*1946). Sie gehört seit 1990 zur Sammlung des Kunstmuseum Stuttgart und wurde bisher nur einmal, im Jahr ihrer Erwerbung, gezeigt.
Die Surrealisten waren mit die ersten Künstler um 1920, die sich systematisch mit der gestaltenden Kraft des Zufalls befassten. Max Ernst (1891–1976) erfand 1925 die Frottage und Grattage, um Elemente, die nicht zusammengehören, zu einer Bildeinheit zu verknüpfen. Daraus resultierte eine Ästhetik des Brüchigen, die zugleich Spiegel einer unsicher gewordenen Zeit war. Bereits 1914 begann Hans Arp (1887–1966) in der Schweiz, wohin er sich im selben Jahr vor den Wirren des ersten Weltkriegs zurückzog, mit seiner Werkreihe »Collagen nach den Gesetzen des Zufalls geordnet«. Dabei handelt es sich um quadratische oder in Streifen und Fetzen gerissene Papiere, die er auf den Boden fallen ließ, und deren zufällige, durch Luftwiderstand erzeugte Konstellationen er dann fixierte. »Trois stoppages étalon« (1913/14) des französischen Künstlers Marcel Duchamp (1887–1968) zählt zu den Inkunabeln der Zufallskunst. Hierfür ließ er drei ein Meter lange Musterfäden auf den Boden fallen, die er gleichsam als UrMeter in Form von Holzlinealen verewigte.
Der Würfel steht wie kein anderes Element für den Zufall. Er symbolisiert Maß und Ordnung, zugleich aber auch Unberechenbarkeit und das Spiel. Ein Raum innerhalb der Ausstellung versammelt Werke, die sich speziell den Möglichkeiten des Würfels in Verbindung mit Bildkomposition widmen. Peter Lacroix (1924–2010) erwürfelte zwischen 1975 und 1989 nach einem festgelegten Farbenkodex und Rastersystem ganze Werkserien. Die englische Künstlergruppe Troika arbeitet mit dem zellularen Automaten, einem Vorläufer des Computers. Er legt nach vorgegebenen Parametern die Anordnung und Abfolge weißer und schwarzer Würfel fest. Die Beziehung von Regel, Zufall und Chaos findet in »Calculating the Universe« (2014) einen bildhaften Ausdruck.
Ab den 1960er-Jahren erforschte die Konkrete Kunst die Bedingungen des Zufalls. Vera Molnár (*1924) und Rune Mields (*1935) setzten sich auf mathematischer Ebene mit dem Thema auseinander. Manfred Mohr (*1938) experimentierte für die Entwicklung einer eigenen Bildsprache mit der damals noch neuen Computer-Technologie. Er baute in seine Computerprogramme Zufallsbausteine ein, die den regelhaften Ablauf von Prozessen um eine regellose, zufällige Komponente ergänzten. Für seine frühe Serie der »random objectivations / Zufallsobjektivierungen« verwendete herman de vries (*1931) Zufallszahlen-bücher, wie sie in biologischen Experimenten zu statistischen Berechnungen eingesetzt wurden. François Morellet (1926–2016) gehörte zu den wichtigsten Vertretern einer zufallsbasierten Kunst. Er arbeitete mit Zufallszahlen, die er der unendlichen Zahlenfolge Pi entnahm – und Telefonbüchern.
Noch vor den Surrealisten verwendeten Dichter zufallsgelenkte Verfahren, um Gedichte herzustellen. Prominent ist das Werk »Un coup de dés« (1897) von Stephane Mallarmé (1842–1898), ein visuelles und typografisches Gedicht über den Zufall, das zum Vorbild werden sollte für literarische Experimente der Avantgarde. Der Begründer der Konkreten Poesie Eugen Gomringer (*1925) verfasste viele seiner nur aus wenigen Wörtern bestehenden Gedichte nach dem Permutationsprinzip. Gemeinsam mit dem bildenden Künstler Diet Sayler (*1939) hat er das Werk »fünf linien. fünf worte« (1976) gestaltet: Die ›Linien‹ bilden das Pendant zu Gomringers ›Worten‹ und wurden erwürfelt.
In der Musikgeschichte hatte der Zufall immer wieder Konjunktur, doch erst mit »Music of Changes« (1961) von John Cage (1912–1995) wurde er zum Kompositionsprinzip erhoben. Der Fluxus-Künstler und spätere Schüler von Cage George Brecht (1926–2008) schrieb 1957 eine wissenschaftliche Abhandlung über den Zufall in der Kunst, die 1966 veröffentlicht wurde: »Chance Imagery« thematisiert die Bedeutung des Zufalls, angefangen bei den Dadaisten über die Surrealisten bis hin zu zeitgenössischen Künstlern, und analysiert zentrale Methoden der Zufallserzeugung.
Der Tatsache, dass Zufall ein grenzüberschreitendes Phänomen ist, trägt die Ausstellung Rechnung, indem sie auch dessen philosophisch-erkenntnistheoretische Implikationen beleuchtet. Die Philosophie setzt bei der Erfahrung des Menschen an, dass weder alle Ereignisse in der Natur noch im Leben eindeutig planbar sind. Statt von Zufall redet man in der Philosophie seit Aristoteles auch von ›Kontingenz‹. Der Begriff bedeutet »etwas, das möglich ist«. ›Kontingent‹ ist das, was genauso gut auch hätte anders sein können. Zufall beinhaltet also immer eine Vielheit wählbarer Möglichkeiten. Genau an diesem Punkt des »Entweder-Oder« setzen häufig zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler an, wenn sie sich mit dem Thema Zufall auseinandersetzen.
Timm Ulrichs’ (*1940) Bodenobjekt »Casual : Causal« (1983) thematisiert den unlösbaren Zusammenhang von Zufall und Notwendigkeit mittels eines Anagramms. Mit ihrer performativ-installativen Arbeit »Kartenlegen«, die sie seit 2010 an verschiedenen Kunstorten realisiert, eröffnet Patrycja German (*1979) Möglichkeitsräume zwischen Kunst und Leben, Fiktion und Wahrheit. German legt an drei Terminen die Karten auch für Besucherinnen und Besuchern der Ausstellung. Christian Jankowski (*1968) präsentiert in seiner Videoarbeit »Telemistica« (1999) die Antworten italienischer Fernsehastrologen auf seine Frage, ob ihm eine Zukunft als berühmter Künstler bevorstehe. Für seine Serie »Blasted Allegories« (1977/78) wählte John Baldessari (*1931) nach dem Zufallsprinzip Stills aus Fernsehserien und -reportagen aus, die er von Freunden kommentieren ließ. Die Collage aus Bild und Text macht deutlich, dass jede Form von Interpretation, insbesondere jene von medial vermittelten Bildern, Zufallsfaktoren unterliegt. In Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk hat Eran Schaerf (*1962) speziell für die Ausstellung und begleitend zu seiner Installation »Hyperwürfel / Konkrete Utopie« (2013/2016) ein Hörstück entwickelt, das sich mit der Bedeutung des Zufalls sowohl bei einer persönlichen wie journalistischen Berichterstattung befasst. Die Verschränkungen und Verschiebungen von Inhalten werden in der collageartigen Struktur sichtbar.
Die Ausstellung lädt nicht nur zum Betrachten ein, sondern auch zum Ausprobieren: Das »Essbild« (1965) von Dieter Hacker (*1942) macht den Zusammenhang von Ordnung und Zufall sinnfällig. Innerhalb einer Rasterstruktur können mit Schokoladenlinsen Muster gelegt werden. Die ständige Veränderbarkeit innerhalb einer vorgegebenen Struktur unterliegt dem gelenkten Zufall, hervorgerufen durch den aktiven Betrachter. Die »Random Machine« aus dem ZKM Karlsruhe macht die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung zu Komponisten. Sie zeigt die unendlichen Möglichkeiten auf, den Zufall sowohl für die Findung neuer musikalischer Ideen als für deren fortlaufende Variation einzusetzen.
Im Versuchs-Labor, das eigens für die Ausstellung entwickelt und eingerichtet wurde, sind Besucherinnen und Besucher jeden Alters sowie Schulklassen eingeladen, zum Thema Zufall zu experimentieren und zu forschen. In Zusammenarbeit mit Physikern der Universität Stuttgart (Marc Scheffler, Robert Löw, Karin Otter) und dem Freiburger Mathematikprofessor Dietmar Guderian wurden Experimente im Hinblick auf die von den Künstlern angewandten Methoden ausgewählt. Im Vergleich wird sichtbar, worin sich der künstlerische und der naturwissenschaftliche Zufall unterscheiden. Innerhalb der Ausstellung verweisen zudem methodischen Stationen auf die aus Physik und Mathematik abgeleiteten und zur Anwendung gebrachten Methoden.
- Kunstmuseum Stuttgart
Kleiner Schlossplatz 1, 70173 Stuttgart - Öffnungszeiten: Di bis So: 10–18 Uhr, Fr: 10–21 Uhr, Mo: Geschlossen
- kunstmuseum-stuttgart.de