»Er hörte weder das Klatschen des Wassers noch das Geschrei der Möwen und Strandvögel, die über ihm flogen und ihn fast mit ihren Flügeln streiften, mit den schwarzen Augen in die seinen blitzend; er sah auch nicht, wie vor ihm über die weite, wilde Wasserwüste sich die Nacht ausbreitete; was er allein hier sah, war der brandende Saum des Wassers, der mit hartem Schlage immer wieder dieselbe Stelle traf und vor seinen Augen die Grasnarbe des steilen Deiches auswusch.« Theodor Storm, Der Schimmelreiter
Landschaft, nicht nur als impressionistische Schilderung von Natur, sondern vor allem als Repräsentation kultureller Entwicklungen, zieht sich als Topos durch die Kunstgeschichte der Neuzeit, durch zeitgenössische Fotografie und Film. Landschaften „erden“ Handlungsrahmen, Akteure und Symbole, und verweist die inszenierte Landschaft auf reale Topographie, verleiht sie Authentizität, suggeriert Realismus. Nicht zuletzt aber transportiert sie Mythen. Theodor Storms Novelle Der Schimmelreiter (1888), die Geschichte von Aufstieg und Fall des Deichgrafen Hauke Haien, wäre ohne ihre Verwurzelung in der norddeutschen Geographie kaum denkbar (tatsächlich stammt die windzerzauste Figur des Deichgrafen und seines fahlen Geisterpferdes ursprünglich von der Weichsel). Dass der bildgewaltige Stoff früher oder später in einem dem Film so eng verwandten Medium wie der Graphic Novel auftaucht, kann kaum überraschen. Die Zeichnerin Ute Helmbold legt nun in der Edition Eichthal eine beeindruckende grafische Adaption von Storms Novelle vor, die sich durch ihr wunderbar expressives Artwork und ihre formale Konzeption deutlich vom Gros der zeitgenössischen Graphic Novels abhebt. Das Anliegen, literarische Stoffe in die Comicform zu überführen – man denke z. B. an die amerikanische Reihe Classics Illustrated, die in den 1960 bis 70er Jahren auch in deutschen Auflagen publiziert wurde –, findet man in der Comicgeschichte seit der Nachkriegszeit. Aktuell versucht sich sogar der Suhrkamp Verlag, mehr oder weniger geglückt, an der grafischen Zweitverwertung hauseigener Autoren.
Kontrolle, Klatsch und protestantisches Arbeitsethos
Ute Helmbolds Inszenierung lehnt sich bewusst eng an die dramaturgische Konzeption der literarischen Vorlage an. Die Geradlinigkeit der Erzählung findet ihre Entsprechung im Seitenlayout – alle Panels sind nebeneinander angeordnet, die Leserichtung der Bilder läuft stets von links nach rechts (nie von oben nach unten). Die Rhythmisierung der schmalen, hochformatigen Bildkästen mit ihren strengen Farbflächen treibt die Geschichte um den ruhelosen, gesellschaftlich nicht voll akzeptierten Aufsteiger Hauke Haien voran. Mit engen, hart angeschnittenen Bildausschnitten visualisiert die Zeichnerin die überschaubare bäuerliche Welt mit ihrem Netz aus sozialer Kontrolle, Klatsch und protestantischem Arbeitsethos. Handschriftliche Dialoge im Tonfall des 19. Jahrhunderts sind Teil der Bilder, während die eigentliche Textebene (der subtil bearbeitete Originaltext von Storm) als Satzschrift im unteren Drittel der Doppelseiten platziert ist. Für den Leser ergibt sich so die Option des freien (sogar nicht linearen) Changierens zwischen den drei Erzählebenen – Bild, wörtliche Rede und Erzähltext. Eine Konzeption, die letztendlich auf den für Literaturadaptionen stets relevanten Fragestellungen beruht „Wie kann man aus einer literarischen Erzählung einen Bildroman machen? Kann man, ohne die textliche Vorlage zu verändern, Text und Bild ineinander fließen lassen – statt sie nur nebeneinander anzuordnen –, so dass daraus eine in ihrer Gesamtheit überzeugende neue Form entsteht?“
Entsprechend der literarischen Vorlage bleiben die Protagonisten in den expressiven Zeichnungen eher vage. In deutlichem Kontrast zur Gestaltung der spröden Charaktere steht die Klarheit in der zeichnerischen Formgebung von Geschirr, Gläsern, Teeservice (man hört fast den Klang des zerbrechlichen Porzellans) und ziselierten Petroleumlampen – jenen Dingen, die als einzige so etwas wie kulturelle Verfeinerung in der harten bäuerlichen Lebenswelt repräsentieren.
Eine besonderer Rolle weist Ute Helmbolds grafische Adaption den Tiergestalten der Novelle zu. Neben dem titelgebenden mysteriösen weißen Hengst ziehen sich zum Teil archaische Tiermotive durch die gesamte Erzählung, nimmt die Tragik der Erzählung mit dem gewaltsamen Tod eines Katers ihren Anfang. Das nimmt die Zeichnerin zum Anlass immer wieder ganze Doppelseiten mit Möwen und Krähenschwärmen zu besetzen; ein dunkler Eulenvogel verkündet kommendes Unheil, ein junger Hund soll zur Besänftigung der Naturgewalten geopfert werden.
Formale Geschlossenheit und atmosphärische Dichte
Über allem schwebt der hohe Wolkenhimmel der norddeutschen Landschaft, dessen Weite die eindimensionale Lebenswelt der Dörfler überragt. Graslandschaften, Deiche, Watt und Meer entwickeln in der zeichnerischen Darstellung durch expressive Linienführung und fein abgestufte Farbflächen abwechselnd eine Zartheit und Schroffheit, eine Tiefe und Vielschichtigkeit, welche die Erzählung ihren menschlichen Protagonisten verwehrt.
Die raffiniert-subtilen Nuancierungen in den Grafiken kommen tatsächlich durch eine Reduktion der Druckvorgänge zustande. Denn das ganze Buch ist ausschließlich in zwei Farben – Dunkelblau und dunkles Beige – gedruckt. Die Abstufungen von Hell nach Dunkel sowie alle Nuancen der Farbtöne entstehen durch Aufrasterung oder Überdrucken der Farbflächen. Gleichzeitig sorgt die Beschränkung in der Farbskala für formale Geschlossenheit und immense atmosphärische Dichte. Buchgestalterisch ist die Publikation äußerst sorgfältig konzipiert. Von der Wahl eines adäquaten Papiers über die Gestaltung der Vorsatzseiten bis hin zum bewussten Verzicht auf den üblichen Hardcovereinband und die Entscheidung für ein Paperback mit offener Rückenbindung.
Nach mehr als 200 Seiten und einem furiosen Showdown markiert ein doppelseitiges Panorama das Ende der Erzählung. In dem dunklen, seltsam stillen Bildmotiv vereinen sich noch einmal alle Elemente der Novelle zu einem beeindruckenden surrealen Schlusspunkt.
www.edition-eichthal.de Ute Helmbold unterrichtet seit 1995 Illustration an der HBK Braunschweig. Wer mehr über sie wissen will: www.derbildindex.de [/columns]