Als die israelische Original-Ausgabe von Rutu Modans neuer Graphic Novel Tunnel im September 2020 in die Buchhandlungen von Tel Aviv, Haifa und Jerusalem geliefert wurde, stand der zweite Corona-Lockdown dem Land gerade bevor. Die deutsche Übersetzung kam im Dezember heraus, als in einigen Bundesländern die Buchläden geöffnet blieben, während andere online bestellten und die Lieferdienste tätig wurden. Eine französische Version ist im Januar bei Actes Sud erschienen, die englische erscheint im Herbst bei Drawn & Quarterly.
Fünf Jahre hat Israels bekannteste Comic-Autorin an diesem 280 Seiten starken, farbig illustrierten Buch gearbeitet. Die Handlung führt in büchergefüllte Wohnungen dementer Archäologen, in die prächtigen Villen zwielichtiger Antiquitätensammler und unter die Erde, in illegale archäologische Grabungstunnel. Hauptcharakter ist die alleinerziehende Tochter des Archäologen, die mit ihrem schulpflichtigen, smartphone-fixierten Sohn und einem zusammengesuchten Team auf eigene Faust im Grenzgebiet nach jüdischen Altertümern gräbt.
Modans vorherige Comic-Bücher, Exit Wounds (2007) und Das Erbe (2013), waren internationale Erfolge. Bereits mit dem ersten platzierte sie das Land, das eher für seine Hightech-Unternehmen und politische Konflikte bekannt ist, in der weltweiten Comic-Landschaft. Modans grafische Erzählungen kombinieren präzise Beobachtungen aus dem israelischen Alltag mit Charakteren, die sich ungeplante Eigenheiten bewahren, und einem einfachen Zeichenstil, der an den belgischen Zeichner Hergé erinnert.
Doch Modan entstammt natürlich einer anderen Generation und einem viel weniger konventionellen Comic-Umfeld. Nach dem Studium hatte sie in den 1990ern zusammen mit Yirmi Pinkus und anderen die Künstlergruppe Actus Tragicus gegründet und im Selbstverlag avantgardistische Comic-Broschüren veröffentlicht – auch eine nach Erzählungen des damals noch nicht berühmten israelischen Schriftstellers Etgar Keret. Die jetzt 55-Jährige ist Professorin an der Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem, wo sie Illustration und Comics unterrichtet.
Die Suche nach dem verlorenen Schatz
In dieser Geschichte nun geht es um nichts Geringeres als die sagenumwobene Bundeslade der historischen Israeliten, deren Grabungsstätte gleich mehrere Figuren des Comics im Westjordanland suchen. Als eine große Sammlung von Altertümern den Eigentümer wechselt, nimmt Archäologen-Tochter Nili in aller Eile und eigenhändig jene Grabung wieder auf, die ihr Vater begonnen hatte, als sie ein Kind war. Damals war die Suche nach dem verlorenen Schatz aus der Zeit vor dem Ersten Tempel durch die Intifada beendet worden.
Nili besorgt Ausrüstung, bezahlt einige leichtgläubige jugendliche Siedlerextremisten und stößt im Niemandsland zwischen israelischen Sperranlagen und Autonomiegebiet auf palästinensische Schmuggler, die an derselben Stelle einen eigenen Tunnel graben. Einer der Schmuggler entpuppt sich als Kindheitsfreund Mahdi. Währenddessen träumt ihr Bruder von einer Karriere an der Universität, verrät alle Geheimnisse und befreit seine Schwester aus dem Arrest bei der israelischen Grenzbrigade, deren Kommandeur alle Klischees erfüllt, die man so von Armeeoffizieren haben kann.
Am Ende wird die Bundeslade vielleicht gefunden, vielleicht auch nicht gefunden, vielleicht verschwindet sie auf dem nahöstlichen Schwarzmarkt für historische Artefakte, der vom ›Islamischen Staat‹ beliefert wird.
Filmische Arbeitsweise
Dies ist Modans bisher komplexestes Buch, das mit völliger Selbstverständlichkeit aus der Gegenwart zurück in die Zeit des Unabhängigkeitskrieges führt, und bis in die Zeit der babylonischen Eroberung von Jerusalem im Jahre 587 v. Chr. Dass die Story auch Motive des ersten Indiana-Jones-Films aufnimmt, macht daraus nicht unbedingt eine Satire, denn eine Besonderheit ihrer Arbeitsweise sorgt dafür, dass die Erzählung auf dem Boden bleibt. Modan entwickelt vorab ein präzises Storyboard, wie ein Filmskript, und stellt dann mit Familienmitgliedern, Künstlerkollegen und engagierten Darstellern die Szenen auf, um sie zu zeichnen. Allein die Körpersprache der Figuren ist viel realer als in jedem Tim-und-Struppi-Abenteuer.
Modan erklärte im Gespräch mit der israelischen Tageszeitung Haaretz, welchen Erwartungen sie sich ausgesetzt sieht: »Wenn ein israelischer Künstler im Ausland arbeitet, erwarten die Leute oft, dass er den (israelisch-palästinensischen) Konflikt für sie löst, ihn erklärt, dass er Bücher schreibt, die sagen, es wird Frieden geben und alles wird gut.« Und sie erklärt, was sie bei ihren historischen Recherchen zu dem Buch für sich selbst entdeckt hat: »Eines der traurigsten Dinge, die ich verstand, als ich anfing, diese Geschichte zu recherchieren, ist, dass das historische Israel in den Palästinensergebieten lag. König David und Moses und Salomon und Josua – sie alle haben dort gelebt. Für mich war das eine der schwierigsten Entdeckungen, denn ich habe verstanden, dass die Siedler diese Gebiete niemals aufgeben werden.«
- Rutu Modan, Tunnel, Carlsen Verlag 2020, 280 Seiten, 28 Euro