Unter dem Titel CAPTURE ALL untersucht die 28. transmediale, zum vierten Mal unter der künstlerischen Leitung von Kristoffer Gansing, vom 28. Januar bis zum 1. Februar im Haus der Kulturen der Welt die allumfassende Quantifizierung von Leben, Arbeit und Spiel und lotet deren Grenzen aus.
In einer von Algorithmen beherrschten Gesellschaft tragen wir in dem Drang nach umfangreicher zahlenmäßiger Erfassung mehr oder weniger bewusst zur ständigen Erfassung unserer Daten bei: Aus allem kann ein Wert extrahiert, in allen Lebensbereichen unsere Produktivität gemessen werden. Daraus resultierend wird die Beziehung zwischen Arbeit und Spiel neu definiert, da ludische und partizipatorische Strukturen absichtlich genutzt werden, um persönliche Informationen nachzuverfolgen, soziale Beziehungen auszunutzen und Verhaltensmuster auswerten zu können. Auch das Bedürfnis nach vorausschauender Kontrolle wird verstärkt, der Mensch als Bürger_in, Arbeiter_in und Akteur_in in Netzwerken wird zum Sensor für weltweite Datensammlung.
Die transmediale 2015 fordert die vorherrschende CAPTURE ALL-Logik der digitalen Kultur heraus und fragt nach alternativen Lebensstilen, die sich dem Imperativ der extensiven Datenerfassung im digitalen Kapitalismus widersetzen.
Internationale Denker_innen und Kulturproduzent_innen reagieren in einer Ausstellung, Performances, Screenings und Diskussionsrunden auf aktuelle Phänomene wie Gamifizierung, Smart City, Quantifizierung und algorithmische Kontrolle. Sie suchen nach künstlerischen Strategien und möglichen Ansätzen, nach Schwachpunkten und Lücken, die genutzt werden können, um alternative Lebenswege herauszuarbeiten.
Ein Teil des Festivals wird experimentell den wachsenden Einfluss von smarten Technologien im täglichen Leben kritisch hinterfragen und neu definieren: Kollektive wie unMonastery werden mit Hilfe einer Art verweltlichter Mönchsphilosophie lokale und alternative Lösungen außerhalb der Cloud für das Leben im 21. Jahrhundert vorstellen.
Während des Symposiums behandeln die teilnehmenden Wissenschaftler_innen, Künstler_innen und Designer_innen das Festivalthema in Diskussionsrunden und Vorträgen anhand von drei thematischen Strängen: CAPTURE ALL – Work, CAPTURE ALL – Play, CAPTURE ALL – Life. Unter ihnen sind Judy Wajcman, eine der wichtigsten Vertreterinnen der feministischen Techniksoziologie, im Gespräch mit Tiziana Terranova, eine der ersten Theoretikerinnen zum Thema freie Arbeit in der digitalen Wirtschaft sowie der Publizist und Leiter der Abteilung »Kulturelle Entwicklung« im Centre Georges Pompidou, Bernard Stiegler. In der #play-Keynote von McKenzie Wark geht es um Gamification als neueste Strategie der »vectoral class«, um Netzwerke zu kontrollieren, Algorithmen zu managen und Wert aus einer Welt zu schöpfen, in der es kein »Draußen« mehr gibt. Wark richtet hier seine Aufmerksamkeit auf Hacker_innen und Datapunks als diejenigen, die wissen, wie mit Regeln gespielt und wie eine von algorithmischer Kontrolle abhängige Welt neu programmiert werden kann.
Im Ausstellungsteil nähert sich Jennifer Lyn Morone dem Self-Tracking auf gleichermaßen kritische wie spielerische Art und Weise: In ihrer Arbeit JLM Inc macht sich Morone selbst zu einem Unternehmen, das seinen Aktienwert aus Datenaufzeichnungen über die Online- und Offline-Aktivitäten der Künstlerin generiert. LaTurbo Avedon lebt als virtuelle Künstlerpersönlichkeit im Social Web. Für die kollaborative Arbeit Commons, die sie für die transmediale 2015 entwickelt, ruft sie zur Partizipation auf: User_innen können ihr zu diesem Zweck einminütige Videos, in denen sie ihre Heimatumgebung capturen, zusenden. Der neue Game Mod der Eastwood – Real Time Strategy Group beschäftigt sich mit algorithmischer Arbeit und Überwachung und die amerikanische transdisziplinäre Künstlerin und Pädagogin Heather Dewey-Hagborg wehrt sich mit ihrem DNA-Spuren-Radierer gegen Biodata. Die von dem amerikanischen Künstler, Autor und Kurator Zach Blas entwickelten Gesichtskäfige stellen ein beeindruckendes Projekt zum Thema Predictive Control im Bereich der Biometrik dar.
Das Film & Videoprogramm präsentiert aktuelle und historische Arbeiten von 1937 bis 2014, darunter zehn nationale und europäische Premieren. CAPTURE ALL wird als multiples Phänomen verhandelt, welches die Suggestion eines freien, selbstbestimmten Lebens im Sinne der Californian Ideology mit repressiver Überwachung und einer überbordenden, das Individuum ratlos zurücklassenden Bilderwelt verbindet. Reflektiert wird dabei auch das Medium des Bewegtbildes selbst; CAPTURE ALL wird zum Axiom der alles erforschenden Kamera, die einerseits immer neue, dem bloßen Auge verborgene Dinge sichtbar macht und umgekehrt hilflos vor der Abstraktion verharrt. Im kommenden Zeitalter der Algorithmen droht das Bewegtbild bloße Illustration des Ungreifbaren zu werden.
In der Eröffnungsnacht wird im Auditorium des HKWs die Installation Sovereign Sisters der britischen Otolith Group installiert, ein 3D-Scan des UNO-Weltpostdenkmals in Bern, welches als Vorläufer globaler Kommunikation und Welterfassung steht. Ebenfalls zur Eröffnung läuft im Theatersaal als Loop das YouTube-Mashup Hoax Canular des kanadischen Videokünstlers Dominic Gagnon, in der er die seltsamen Clips von Teenagern über den angekündigten Weltuntergang 2012 dokumentiert: »Thanks for that, Internet«. Christian von Borries stellt in seinen abendfüllenden Essays IPHONECHINA die Frage »Stell Dir vor, Apple wäre ein Staat – würdest Du lieber in Apple oder in China leben?« und untersucht die Rolle des kalifornischen Konzerns im Reich der Mitte nicht nur als Produzent, sondern auch als Vorreiter eines neuen Lebensstils, der die Lücke des zerfallenden Kommunismus zu füllen scheint.
Die 16. Ausgabe des Partnerfestivals CTM – Festival for Adventurous Music and Art – findet vom 23. Januar bis zum 1. Februar 2015 statt.
Unter dem Titel Un Tune beschäftigt sich CTM 2015 mit den unmittelbaren körperlichen Auswirkungen von Frequenzen, Klang und Musik sowie den synergistischen Effekten auf andere sensorische Stimuli dieser Phänomene.