Tim Berresheim 2003 – 2015

Frappierender als die Präzision der alten Meister: Der Aachener Künstler Tim Berresheim erzeugt mit seinem Rechner simulierte Kunstwelten in einer Bildsprache, die sich aus dem Spannungsfeld von High-End-Computertechnologie und der Befragung der eigenen Lebenswirklichkeit speist. Stets verfolgt er das Ziel, mit aktuellster Technik etwas radikal Neues zu kreieren. Er schafft Computerbilder, Fotografien oder Siebdrucke bis hin zu ganzen Rauminstallationen, die Stillleben, Raumillusionen und Zukunftsvisionen darstellen und in denen der Betrachter sich in Zeit und Raum verlieren kann.

Tim Berresheim ist ein Bildermacher 2.0. Mit der Technik des Renderings, das physikalische Prozesse simuliert und dreidimensionale Strukturen wiedergeben kann, komponiert er synthetische Räume, in denen er immer wieder in der Wirklichkeit Unvereinbares zusammenzwingt. Doch sind die errechneten Bildwelten stets plausibel. So entstehen Gebilde, die trotz ihrer surrealistischen Kombinatorik wahrscheinlich wirken, präzise Kompositionen, die im Hinblick auf Detailreichtum, Raumanordnung und Ausleuchtung eine höchst realistische Anmutung haben. Das Ergebnis sind außerordentlich prägnante, eigenwillige, nicht selten rätselhafte Bilder.

In der Arbeit Hairmint V aus dem Jahr 2015 etwa war eine physikalische Versuchsanordnung Anstoß und Grundlage für das Generieren des Bildes: Berresheim simuliert wissenschaftlich exakt das »Fallen« einer Gaswolke. Das Ergebnis ist ein Angebot fürs Auge, das – je nach Zoomfaktor – potenziell unendlich viele Wahrnehmungsebenen bereithält. Aus der Ferne sieht der Betrachter einen kosmischen Spiralnebel, der sich in der Halbdistanz in Farbpulverwolken eines indischen Holi-Festes verwandelt. Aus der Nähe betrachtet, wird daraus ein Wirbelwind aus feinst formulierten Härchen, die beim weiteren Zoomen immer mehr präzisiert werden. Spiralnebel? Minihaare? Was ist denn da wirklich abgebildet? Die Antwort: weder das eine noch das andere, sondern beides. Tim Berresheims Bildmotive sind Gestaltwandler. Es wird deutlich, dass Sehen und Augentäuschung zwei Seiten einer Medaille sind und dass Wahrnehmung volatil und interpretationsbedürftig ist.

Den Effekt kennt man so ähnlich von den alten Meistern. Aus einer gewissen Distanz täuschen ihre perfekt gepinselten Porträts oder Blumenstillleben verblüffend echt aussehende Abbilder der Wirklichkeit vor. Doch je näher man dem Bild kommt, desto mehr gerät es außer Form. Allerdings geht das Motiv nicht – wie bei Berresheim – in andere erkennbare Aggregatzustände über, sondern es löst sich auf und wird zur Unform. Am Ende bleibt auf der Bildoberfläche eine amorphe Versammlung von vielfarbigen Pinselstrichen und Farbtupfern. Bei Berresheim indes trifft der Betrachter auf neue Bilder, perfekte Darstellungen, die gänzlich immateriell sind, nichts als digitale Codierungen. Und darin liegt ein fundamentaler Unterschied zu den alten Meistern: Berresheims Bilder imitieren nichts, sie sind autonome Geschöpfe jenseits der Realität.

Diese Geschöpfe lassen sich von vielen Perspektiven aus anschauen. Wie ein verrückt mäanderndes Raumschiff kann man sie von allen Seiten aus anfliegen. Und verliert dabei den sicheren Betrachterstandpunkt. In der Hyperrealität gibt es keinen festen Betrachterstandpunkt. Hier flottiert alles frei im Raum, Betrachter und Bildmotiv.

Im Museum kann man dieses Potenzial besonders eindrucksvoll vor Private Waggle Dancer I (2015) erkunden, einer stereometrischen Arbeit, zu deren Betrachtung eine 3-D-Brille bereitliegt. Und auch wenn es für Berresheim nur eine künstlerische Möglichkeit von vielen ist, das technologische Potenzial bis zum Erstaunen auszuschöpfen, lohnt sich es sehr, die Verblüffung auszukosten, mit der die Installation »Tarnen & Täuschen« in der »aixCAVE« im IT Center der RWTH Aachen, einem der weltweit größten Virtual Reality Systeme, aufwartet. Im virtuellen Raum wird Berresheims High-End-Malerei auf die Spitze getrieben.

In der »aixCAVE« können naturwissenschaftlich-technische Phänomene mit Methoden der virtuellen Realität auf fünf Projektionswänden dreidimensional dargestellt und interaktiv simuliert werden. Hier lässt sich für die Dauer der Ausstellung auch ein 3-D-Bild von Tim Berresheim im wahrsten Sinne des Wortes begehen, dirigieren und umgestalten. Im Rahmen eines Forschungsprojekts an der RWTH wurde die gerenderte Arbeit digital visualisiert.

Durch Handbewegungen kann der Betrachter eine Komposition aus abstrakten Körpern, die sich aus 400.000 Partikeln in den Grundfarben gelb, rot und blau zusammensetzt, ins Schwingen bringen. Man kann das eigenartige Schlauchwesen lenken und auseinanderziehen, es atomisieren und wieder zusammenführen. Beim Zerstäuben scheinen einem glitzernde Granulatkügelchen ins Auge zu fliegen. Man fühlt sich wie ein mächtiger Magier, der Dementoren verjagt oder das vielgestaltige Gesamt-Kunstwerk mit einem Handstreich in eine wohlgeformte Weltkugel verwandelt, die im Raum tanzen kann.

Im Ausstellungszeitraum werden einige öffentliche Führungen durch die »aixCAVE« angeboten, um den BesucherInnen diese einmalige Interaktion mit dem Kunstwerk zu ermöglichen.

Die Aachener Ausstellung bietet mit etwa 40 Arbeiten den bislang umfangreichsten retrospektiven Überblick über Tim Berresheims Werk seit 2003, das Resümee einer gut zehnjährigen Auseinandersetzung mit der Frage, wie Malerei – oder besser: das Bildermachen – im Zuge der Medialisierung durch Digitalität, Computing und Netzkultur heute aussehen kann.

Ähnlich neuartig wie Tim Berresheims Bildsprache setzt auch die Ausstellung im Ludwig Forum auf innovative Vermittlungsformen. Der Künstler hat eigens für die Präsentation eine Augmented Reality App entwickelt. Durch Einblendung einer neuen Ebene u.a. über die Computerprints der Ausstellung erwecken seine »augmentierten« Motive buchstäblich zum Leben: Gerenderte Volumen, wie beispielsweise menschliche Körper, geraten in Bewegung und lassen sich von allen Seiten betrachten. Zusätzlich werden auch die technisch hochkomplexen Entstehungsprozesse visualisiert, direkt am Bild, im Hier und Jetzt. Unsichtbares wird so sichtbar und erfahrbar gemacht.

Kuratorin: Esther Boehle

Katalog: Zur Ausstellung erscheint der Katalog „Tim Berresheim. Throwing Signs 3-D“ im Verlag der Buchhandlung Walther König. Er enthält neben einem Ausstellungs- und Werkverzeichnis mit zahlreichen Abbildungen ein Technik-Glossar sowie Textbeiträge u.a. von Wolfgang Brauneis und Hans-Jürgen Hafner. Herausgegeben von Esther Boehle, 396 Seiten, Deutsch/Englisch, ca. 270 Abb., 20 x 27 cm, 39,80 Euro, ISBN 978-3-86335-678-1, Oktober 2015.

Ludwig Forum für Internationale Kunst
Jülicher Str. 97-109, 52070 Aachen
 
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