»Eine Qualität, die von niemandem mehr übertroffen werden kann«

Jan Harmensz. Muller (1571–1628) Porträt des Hendrick Goltzius, ca. 1617-1620 Kupferstich, 603 x 459 mm Städel Museum, Frankfurt am Main Foto: Städel Museum, Frankfurt am Main

Jan Harmensz. Muller (1571–1628)
Porträt des Hendrick Goltzius, ca. 1617-1620
Kupferstich, 603 x 459 mm
Städel Museum, Frankfurt am Main
Foto: Städel Museum, Frankfurt am Main

Das Frankfurter Städel Museum zeigt vom 4. Juni bis zum 14. September 2014 eine hochkarätige Auswahl niederländischer Druckgrafiken aus dem späten 16. und frühen 17. Jahrhundert. Im Mittelpunkt der Sonderausstellung stehen etwa 65 Werke des Künstlers Hendrick Goltzius (1558–1617), eines der virtuosesten Zeichner und Druckgrafiker um 1600. Sein Œuvre zeichnet sich durch hochgebildete und gesucht komplexe Inhalte sowie eine extrem stilisierte Formgebung aus und erlangte dank internationaler Verbreitung seiner Kupferstiche in ganz Europa Berühmtheit. Insgesamt präsentiert die Ausstellung Stil und Vollendung. Hendrick Goltzius und die manieristische Druckgrafik in Holland rund 100 Druckgrafiken und vier ergänzende Zeichnungen aus dem Bestand des Städel Museums in der Ausstellungshalle der Graphischen Sammlung. Neben zentralen Arbeiten von Goltzius sind mit Jan Harmensz. Muller (1571–1628), Jan Saenredam (1565–1607), Jacques de Gheyn II. (1565–1629) und Jacob Matham (1571–1631) wichtige Künstler aus seinem Umkreis vertreten.

 

Jitter .Magazin: Die manieristische Druckgrafik in Holland ist ein wichtiger Beitrag zur Kunst des 16. Jahrhunderts und Hendrick Goltzius ihr herausragender Vertreter. Was erfährt der Besucher Ihrer Ausstellung über den Künstler Goltzius und den kulturhistorischen Kontext?

Dr. Martin Sonnabend: Wir geben zunächst einen Überblick über Goltzius als Kupferstecher. Die Zeitspanne in der er druckgrafisch tätig war, beginnt um 1575–1578 und reicht bis 1600. Damit erhält der Besucher gleichzeitig einen Eindruck von den verschiedenen Facetten dieser Zeit: Wir sehen z. B. eine große Eleganz, eine große Suche nach Form. Der von Goltzius vertretene Spätmanierismus ist eine höfische und internationale Kunst, die ihren Ausgangspunkt bei dem Hofmaler Rudolph II., Bartholomäus Spranger nimmt und sich über ganz Europa ausbreitet. Diese gezierten Formen, die uns heute als übertrieben auffallen, vertreten ein hochkultiviertes höfisches Ideal. Goltzius setzt diese Formensprache, die auf Figuren konzentriert ist und oft ins Erotische gleitet, wo starke Männer mit dicken Muskeln und elegante Frauen mit zierlichen Gesten agieren, auf eine bestimmte, sehr stark auf die Linie fixierte Art und Weise in Kupferstich um. Bei ihm gewinnt die gestochene Linie ein gewisses Eigenleben: mal ist sie breit, dann verjüngt sie sich wieder, unterstützt so die Plastizität der Formen und tritt gleichzeitig selbst in Erscheinung, wird als Teil des Kunstwerks verstanden.

Man merkt aber auch, dass es ein sehr kriegerisches Zeitalter gewesen ist. Goltzius zeigt Soldaten, seine römischen Helden sind alles Supermänner, monumental in ihren Rüstungen. Und dann denkt er sich die phantastischsten Bewegungen, Gesten und Haltungen aus, er macht einen riesigen Herkules, der so muskelbepackt ist, dass man fast lachen muss. Es ist aber auch eine Kunst, die sehr reflektiert, intellektuell und gebildet ist. Die wilden Männer und schönen Frauen stehen den kunstvollen Bildnissen eines Wissenschaftlers oder eines berühmten Künstlers gegenüber, wo das Portrait eingebunden wird in einen vielfach gestalteten Rahmen mit allegorischen Anspielungen, mit Verweisen auf Leistungen des Dargestellten. In das Jahr 1568 – da ist Goltzius gerade zehn Jahre alt – fällt der Beginn des achtzigjährigen Krieges zwischen den Nordprovinzen der Niederlande, die dann protestantisch wurden, und den südlichen Provinzen – aus heutiger Sicht könnte man sagen zwischen Holland und Belgien. In dieser Zeit werden die Grundlagen für das Goldene Zeitalter der Niederlande gelegt, also das holländisch 17. Jahrhundert. Und Goltzius ist ein interessantes Bindeglied zwischen dem 16. Jahrhundert der Renaissance und dem Goldenen Zeitalter.
Er ist ein Künstler, der immer wieder Neues ausprobiert. Der hochelegante Kupferstichstil, der ihn in Europa berühmt macht, ist nur eine, wenn auch sehr wichtige Phase seines Schaffens. Man darf nicht vergessen, dass die Druckgrafik ein extrem dynamisches Bildmedium ist, weil sie in Auflage produziert wurde und überall hingelangen konnte: in Italien kennt man Goltzius, in Frankreich und Deutschland kennt man ihn, in den Niederlanden sowieso, auch in England. Er ist überall bekannt, weil er Druckgrafiker ist. Das macht er ein paar Jahre und dann beginnt er sich mit der Antike zu beschäftigen, reist nach Italien, zeichnet nach Skulpturen, zeichnet nach Raffael und setzt sich auf einem sehr hohen intellektuellen Niveau mit der Renaissance auseinander. Er liest Vasari, er ist mit Karel van Mander, dem bedeutenden niederländischen Kunsttheoretiker, befreundet. Goltzius ist einer der berühmtesten Künstler seiner Zeit und er versucht etwas zu einem Abschluss oder Höhepunkt zu bringen, was am Anfang des Jahrhunderts mit Raffael und Dürer begonnen hatte. Am Ende des Jahrhunderts macht Goltzius Kunstwerke, in denen er Raffael und Dürer zitiert, und indem er sie zitiert, versucht er sie gleichzeitig zu übertreffen. Goltzius produziert diese sechs Meisterstiche, die jeweils den Stil eines berühmten Künstlers wiedergeben, und bringt darin zum Ausdruck: ich kann das alles. Diese Meister konnten nur ihren Stil, aber ich kann alle Stile, also bin ich der Größte von allen. Danach wendet er sich von der Druckgrafik ab und macht nur noch Gemälde.

 Hendrick Goltzius (1558–1617) Der große Herkules (oder Knollenmann), 1589 Kupferstich, 596 x 440 mm Städel Museum, Frankfurt am Main Foto: Städel Museum, Frankfurt am Main


Hendrick Goltzius (1558–1617)
Der große Herkules (oder Knollenmann), 1589 Kupferstich, 596 x 440 mm
Städel Museum, Frankfurt am Main
Foto: Städel Museum, Frankfurt am Main

Um welche Arbeiten handelt es sich bei den Meisterstichen, sind sie in der Ausstellung zu sehen?

Das ist eine Folge von sechs sehr großformatigen Kupferstichen, als deren inhaltliche Klammer die Geburt und frühe Kindheit Jesu Christi dient. Es gibt die Verkündigung an Maria, die Geburt im Stall von Bethlehem, die Heimsuchung, also die Begegnung von Maria und Elisabeth, die Beschneidung, die Anbetung der Könige und schließlich die Heilige Familie. Drei davon haben wir ausgewählt und zeigen sie stellvertretend für die ganze Folge. Jedes einzelne dieser Blätter vertritt einen anderen künstlerischen Stil. Wir haben das Dürer-Blatt, das Dürer zu übertreffen sucht, das Blatt im Stil von Lucas van Leyden, der ein sehr wichtiger Druckgrafiker im Holland des frühen 16. Jahrhunderts gewesen ist, und dann noch das Blatt nach Art des Malers Federico Barocci, der zur Zeit von Goltzius ebenfalls eine große Rolle spielte. Wir zeigen zum Vergleich Arbeiten von Dürer oder Lucas van Leyden und auch eine Druckgrafik nach Barocci, weil Goltzius sich eigentlich nicht auf Baroccis Malerei, sondern auf die danach gefertigten Druckgrafik bezieht. Es ist eine Kunst, die in die Extreme geht, die einen Höhepunkt anstrebt, die verblüffend ist in ihren Einfällen, oder auch merkwürdig und fremd wirkt, sogar etwas Gewaltsames hat. Und in diesem Gewaltsamen spiegelt sich, denke ich, auch die Zeit, die verzweifelt versucht, in einer zerrissenen Situation – es sind Glaubenskriege in Europa – noch so etwas wie eine feste Orientierung zu finden. Goltzius versucht den absoluten Standard der Kunst zu setzen, den Superstil zu kreieren, der Stil, der alle Stile umfasst.

Der Stil sucht nach Einheit und Verbindlichkeit, inhaltlich scheint mir das Gegenteil der Fall zu sein. Es ist gerade der Stil, der die Körper deformiert, die menschliche Gestalt in eine phantastische Landschaft verwandelt. Lässt sich auch daran die Zerrissenheit der Zeit ablesen?

Finde ich schwierig. Was Sie da beschreiben, ist ja eine Reaktion auf die Kunst der Renaissance, da steht Michelangelo dahinter, diese Körperkunst, die Skulpturen der Renaissance. Und das soll übersteigert, irgendwie kommentiert und übertroffen werden. Dieser spezielle Manierismus, den Sie beschreiben, verlässt tatsächlich die Vorbilder Natur und Antike und bemüht sich, eine Form zu finden, die kunstvoller, deutlicher, schöner und aussagekräftiger ist als das, was die Vorfahren geliefert haben. Dies ist vor dem Hintergrund eines Jahrhunderts zu sehen, das einen starken Kunstdiskurs geführt hat – dass es Vasari gibt, bedeutet ja, es gibt nicht nur die Kunstwerke, sondern auch die Reflexion darüber. Für Vasari ist der beste und herrlichste Künstler, der überhaupt denkbar ist, Michelangelo. Aber er sagt auch, die Kunst entwickelt sich weiter, sie hat ein Ziel. Für Karel van Mander besetzt 40 Jahre später Goltzius diese Position. Goltzius versucht dieses Erbe, mit dem er als reflektierender Künstler konfrontiert ist, anzunehmen und zu einem neuen Höhepunkt zu führen, angetrieben von einem Bedürfnis nach etwas wirklich Perfektem, nach der vollkommenen Lösung der Frage nach der Schönheit.
Wir konfrontieren in der Ausstellung die »Stürzenden« mit Goltzius’ Kupferstichen nach antiken Skulpturen. Da sieht man auch den von hinten betrachteten Herkules. Während der frühere Herkules mit den übermäßigen Muskeln eine Herkules-Darstellung ist, sieht man hier die antike Skulptur, die Goltzius auch als solche zeigt. Diese monumentale Figur ist ähnlich muskelbepackt, hat aber eine ganz andere Ausstrahlung. Das aufstrebende und entgrenzende Element des frühen Herkules ist verschwunden, an seine Stelle tritt etwas Lastendes, Tektonisches und fest Stehendes. Goltzius testet alles Mögliche aus und versucht so etwas wie eine Summe des Jahrhunderts zu ziehen, so könnte man das vielleicht sagen. Auf der einen Seite die extremen Manierismen, auf der anderen Seite plötzlich beruhigte Antike; dann der Versuch Dürer nachzuahmen oder gar zu übertreffen, im Stil von Dürer besser als Dürer zu sein. Einen der Meisterstichen verkauft er als Blatt von Dürer: er entfernt seine Signatur, lässt das Blatt zirkulieren und freut sich, dass die Leute sagen, das ist ja die tollste Dürer-Grafik, die wir je gesehen haben.

Hendrick Goltzius (1558–1617) Ikarus, aus der Folge der „Vier Stürzenden“, 1588 Kupferstich, 363 x 335 mm Städel Museum, Frankfurt am Main Foto: Städel Museum, Frankfurt am Main

Hendrick Goltzius (1558–1617)
Ikarus, aus der Folge der „Vier Stürzenden“, 1588 Kupferstich, 363 x 335 mm
Städel Museum, Frankfurt am Main
Foto: Städel Museum, Frankfurt am Main

Eine wirkungsvolle Kampagne, würde man heute sagen …

Das war Selbstdarstellung, natürlich. Und das wird auch von van Mander so berichtet, der ja sehr eng mit Goltzius befreundet war, auch wenn wir von heute aus nicht sicher sagen können, was davon stimmt. Aber es ist ganz klar, dass Goltzius sich als derjenige inszeniert, der alles zusammenfasst. Er ist so etwas wie ein Höhepunkt, ein Endpunkt; danach kommt etwas völlig anderes. Das kündigt sich bei ihm aber auch schon an. Ganz spät fertigt er kleine Landschaften als Holzschnitt an, die überhaupt nicht mehr so theoretisch und gedacht sind, sondern eher kleine, elegische Gefühlsäußerungen. Die sozusagen schon ins 17. Jahrhundert gucken, in den Barock, wo es nicht mehr um das Denken, die Klarheit und die Präzision geht, sondern um Suggestion, Gefühl und seelischen Ausdruck. Insofern ist Goltzius auch ein Bindeglied zwischen diesen Epochen. Aber er ist derjenige, der auf monumentale Art und Weise versucht, eine Epoche zu krönen. So entsteht eine merkwürdige Kunst, die für uns heute gar nicht so leicht zu verstehen ist. Sie fasziniert durch die Körperlichkeit, die einem da entgegenspringt und Ideen wie die »Stürzenden«, die da ins Bodenlose fallen und deren runde Einfassung sie wie durch ein Fernrohr betrachtet erscheinen lässt. Gleichzeitig ist es so eine ungeheuer ausgesprochene Kunst, ihr fehlt, was wir an der Moderne so mögen: dass etwas suggeriert und angedeutet wird, dass etwas aus ganz wenig heraus entsteht. Diese Kunst entsteht aus großartigem Handwerk, Goltzius ist einer der besten Kupferstecher aller Zeiten und das war ihm auch bewusst, das ist die Grundlage seines Schaffens.

Hat die Technik den Stil erst hervorgebracht oder zumindest maßgeblich vorangetrieben?

Goltzius ist Kupferstecher von Beruf, man muss sich klarmachen, was das bedeutet. Er ist einer der berühmtesten Künstler seiner Zeit, vielleicht der berühmteste, und was ist er – Kupferstecher! Er ist ursprünglich gar kein Maler, spät erst kommt er zur Malerei, berühmt wird er als Kupferstecher – und Zeichner muss man hinzufügen. Denn er reproduziert nicht nur Vorlagen, er entwickelt selbst die Motive. Seine Kupferstiche sind überwiegend eigene Kompositionen. Auch hier sieht er sich in der Tradition von Dürer. Natürlich gibt es auch die Blätter, die er nach Spranger anfertigt, die sind auch sehr wichtig. Goltzius lässt sich auf die Technik des Kupferstichs völlig ein, er will sie zu einer Eleganz führen, die sie vor ihm nicht gehabt hat, so entstehen die an- und abschwellenden Linien, das Schraffurennetz, das manchmal einen Moiré-Effekt erzielt, die Linien, die sich um Formen herumschmiegen, die so ganz plastisch werden und insgesamt diese große Eleganz ausstrahlen. Er entwickelt ein druckgraphisches Äquivalent zur Malerei Sprangers.

Hendrick Goltzius (1558–1617) Phaeton, aus der Folge der "Vier Stürzenden", 1588 Kupferstich, 362 x 336 mm Städel Museum, Frankfurt am Main Foto: Städel Museum, Frankfurt am Main

Hendrick Goltzius (1558–1617)
Phaeton, aus der Folge der „Vier Stürzenden“, 1588 Kupferstich, 362 x 336 mm
Städel Museum, Frankfurt am Main
Foto: Städel Museum, Frankfurt am Main

Es gibt von Goltzius eine eigenwillige Darstellung seiner deformierten rechten Hand …

Vermutlich meinen Sie eine Federzeichnung, die sich im Teylers Museum, Haarlem befindet. Die ist bei uns nicht zusehen, aber wir haben tatsächlich eine Zeichnung mit Handstudien aus der Städelschen Sammlung. Diese Ausstellung zeigt ausschließlich Blätter aus dem eigenen Bestand des Museums, denn das Städel hat eine große, bedeutende und alte graphische Sammlung, die auf den Gründer Johann Friedrich Städel zurückgeht. Lichtempfindliche Arbeiten wie Druckgrafiken und Zeichnungen können nicht permanent gehängt werden. Die graphische Sammlung des Städel, mit ihren über 100.000 Blättern, teilt sich durch temporäre Wechselausstellungen mit. Diese Ausstellung ist keine Sonderausstellung in dem Sinne, dass Kunstwerke von anderswo für eine Weile ausgeliehen werden, sondern sie zeigt einen Ausschnitt der Städelschen Sammlung.
In diesem Bestand haben wir ein paar sehr berühmte Zeichnungen von Goltzius, darunter die eben erwähnte farbige Kreidezeichnung mit vier Handstudien, von denen die unterste seine eigene rechte Hand zeigt, mit den nach innen gebogenen Fingern, die er nicht gerade halten konnte. Karel van Mander schildert ausführlich in seiner Goltzius-Biographie wie der Künstler als Kleinkind in ein Kohlenbecken gefallen ist und seither diese verkrüppelte Hand hatte. Und mit dieser Behinderung und Einschränkung ist er der größte Künstler seiner Zeit geworden. Das sind so Narrative, die für Goltzius auch eine Riesenrolle spielen: er überwindet alle Schwierigkeiten im Leben und in der Kunst, er erreicht eine Qualität, die von niemandem mehr übertroffen werden kann. Diese Handstudien sind übrigens sehr, sehr schön, ganz phantastische Zeichnungen. Auf dem Blatt sieht man, wie er die Hand weiterentwickelt, wie eine sehr kunstvolle Hand daraus wird, die allerdings so wie sie in der obersten Zeichnung gehalten wird, nicht mehr seine sein kann.

Sah Goltzius in seiner verkrüppelten Hand, in dieser grotesken Verbogenheit, möglicherweise ein besonderes Objekt stilistischer Idealität?

Das finde ich eine gute Idee. Den Gedanken hatte ich noch nicht, aber das ist vielleicht gar nicht so verkehrt. Er geht von einem Naturstudium aus, nimmt etwas, was real ist, aber nicht dem Ideal entspricht, und er zeichnet es auf eine Art und Weise, dass es eine eigene Idealität bekommt. Das kann durchaus so sein.
Diese Zeichnung hat nochmal eine eigene Ästhetik, das muss man dazu sagen, sie ist einfach als Zeichnung ein großartiges Werk, weil sie mit zwei verschiedenfarbigen Kreiden gemacht wurde und die Hände dadurch richtig lebendig werden. Man merkt, was für ein genialer Zeichner der Mann gewesen ist. Inwieweit sich das kunsttheoretisch so fassen lässt, dass Goltzius selbst das als grotesk verstanden hat – grotesk ist ja auch wieder so ein stark besetzter Begriff –, das kann ich nicht sagen, da wäre ich erst mal vorsichtig, aber man kann darüber nachdenken.

Hendrick Goltzius war, Sie haben es erwähnt, der berühmteste Künstler seiner Zeit. Er unterhielt eine Werkstatt, was nicht überrascht, aber auch einen eigenen Verlag. Muss man in Goltzius einen frühen Medienunternehmer erkennen?

Auf jeden Fall! Er setzt damit eine Tradition fort, die sich im 16. Jahrhundert gebildet hat. Dürer verlegt seine Arbeiten noch selbst, er fertigt seine Kupferstiche und Holzschnitte an und Frau Dürer geht auf den Markt, um sie dort zu verkaufen, oder sie fährt nach Frankfurt auf die Messe und verkauft sie da en gros an die Einzelhändler. Erst im zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts entstehen echte Druckgrafik-Verlage und das Zentrum dafür ist Antwerpen. Dort gibt es den berühmten Verlag Zu den Vier Winden von Hieronymus Cock, für den z. B. Brueghel gearbeitet hat. Brueghel liefert dem Cock Zeichnungen, die dieser von tüchtigen Kupferstechern in Druckgrafiken umsetzen lässt, welche anschließend verkauft werden; das war ein gutes Geschäft. Und Goltzius fängt genau so an, er arbeitet als Kupferstecher und Entwerfer für Antwerpener Verlage von Haarlem aus. Als es dann schwierig wird mit den südlichen Niederlanden, als Antwerpen fällt und spanisch wird, gründet er seinen eigenen Verlag in Haarlem und wird wirklich Medienunternehmer: er entwirft Bilder, von denen er hofft, dass er sie verkaufen kann. Er bildet Kupferstecher aus, die seine Entwürfe umsetzen, unterhält eine Druckwerkstatt um die Auflagen zu produzieren, er kümmert sich um den Vertrieb, hat irgendwo ein Geschäft, schickt Sachen auf die Frankfurter Messe und arbeitet mit anderen Verlegern zusammen. Es entsteht ein ausdifferenzierter Betrieb, der sich im späten 16. Jahrhundert zu dem wahrscheinlich führenden Druckgrafik-Verlag Europas entwickelt. Er liefert höchste Qualität, sowohl von der Erfindung als auch von der Ausführung her. Das ist sein Anspruch. Er ist Medienunternehmer und das macht ihn dann auch wohlhabend.

Wie hat man sich die Preisgestaltung vorzustellen, für wen waren die Stiche erschwinglich?

Genaue Preise kann ich Ihnen nicht sagen. Bei Dürer weiß man es ungefähr, aufgrund der Tagebucheinträge von den niederländischen Reisen 1521. So teuer waren die zum Teil gar nicht, etwa im Gegenwert von ein Paar Schuhen. Dennoch darf man sich keine Bildproduktion nach heutigem Maßstab vorstellen, die wirklich jeden erreicht. Vielmehr ist es eine Bildproduktion für die Gebildeten und Wohlhabenden, das können Fürsten sein, die mehr und mehr solche Druckgraphiken auch für politische Zwecke einsetzten. Das sind aber auch vielfach die bürgerlichen Gelehrten und wohlhabenden Kaufleute in den Städten, die Bibliotheken haben, die antike Autoren lesen. Goltzius fügt seinen Blättern oft noch eine Unterschrift in Latein hinzu. Er wendet sich wirklich an eine Schicht von Gebildeten, die sich für die Inhalte interessieren, die lesen können und die letzten Endes auch am Kunstdiskurs teilnehmen, die wissen, wer Raffael ist und vielleicht sogar eine Druckgraphik nach einem seiner Gemälde besitzen. Ganz billig waren die Blätter sicher nicht, genauso wie ein Buch in der Zeit auch eher ein Luxusgut war. Die Auflage eines Kupferstichs belief sich auf etwa tausend Blatt, vielleicht fünfzehnhundert, die sich international verbreiteten – gut, es gab Leute, die stellten davon Kopien her. Goltzius bekommt später kaiserliches Privileg und das verbietet anderen bei Strafe Kopien zu produzieren. Also es ist eine kleine Schicht, für die diese Blätter bestimmt sind.

Sie schreiben: »Ziel dieser Ausstellungen ist es, die Besucher des Städel Museums mit der Bedeutung und der Schönheit des Bildmediums Druckgrafik vertraut zu machen.« Welche Qualitäten halten Sie für ein Publikum, das an die Allgegenwart der Fotografie und ihrer Darstellungsnorm gewöhnt ist, für besonders interessant?

Zunächst sind die Arbeiten gegenständlich interessant, das sind wirkmächtige Bilder. Der Herkules zum Beispiel, der ist faszinierend, vielleicht auch komisch oder sogar abstoßend, auf jeden Fall aber ein sehr starkes Bild. Dann ist es wichtig zu beachten, dass wir es hier weder mit einer Zeichnung noch einem Gemälde oder einer Fotografie zu tun haben, sondern mit einem gedruckten Bild. Damit man eine Vorstellung davon bekommt wie diese Bilder entstehen, wird innerhalb der Ausstellung die Technik der Druckgrafik erklärt: Der Künstler setzt sich nicht wie bei einer Zeichnung vor ein Blatt Papier, er bearbeitet eine Kupferplatte und muss sich immer vorstellen wie eine Linie, die er in das Metall sticht, später im Druck wirkt. Das Bild ist seitenverkehrt und zeigt später schwarze Linien auf weißem Papier, während der Arbeit schaut der Stecher aber auf eine Metallplatte mit Rillen. Eine gewisse Erfahrung und ein großes Abstraktionsvermögen sind Voraussetzung für ein gutes Ergebnis. Wenn man sich das klar macht und dann noch einmal genau diese kunstvollen, geradezu kalligraphischen Linien betrachtet, die bestimmten Regeln und Mustern folgen, macht man eine sehr interessante Erfahrung. Man erkennt, wie sehr so eine Druckgraphik eine Form der Dekomposition ist. Der Stecher hat eine Vorlage, eine Zeichnung vor sich und muss das, was er sieht, in eine Struktur von Linien übersetzen. Das ist eine völlig abstrakte Sprache und diesen Vorgang kann man bei Goltzius gut nachvollziehen, eben weil er diesen elaborierten, sich selbst zeigenden Stil hat. Dann begreift man, was für eine tolle Transformationsleistung so eine Druckgraphik ist, sieht so ein Werk nochmal anders und entdeckt auch eine andere Art von Schönheit.
Anders als bei Gemälden, welche eher einheitlich sind: Öl auf Leinwand, in verschiedenen Schichten aufgetragen und man sieht eine fertige Oberfläche, hat man es bei Zeichnungen und Druckgrafiken mit einem halben Dutzend oder noch mehr verschiedenen Techniken zu tun, Kreide, Feder, Silberstift usw. Sie haben eine große Offenheit und Unmittelbarkeit, oft sieht man wie der Künstler zunächst das eine, dann das andere versucht hat, man kann regelrecht beim Denken zuschauen. Bei der Druckgrafik kommt noch der ganze technische Apparat hinzu und damit auch ganz andere Anforderungen an die Wahrnehmung. In unseren Ausstellungen geht es auch immer wieder darum, das Mediale deutlich zu machen. Weil wir grundsätzlich davon überzeugt sind, dass Besucher, wenn sie dahin gebracht werden ein Bild so anzuschauen, einen kritischen Blick entwickeln. Sie gucken nämlich nicht einfach nur aufs Motiv, sondern stellen Fragen nach dem Entstehungsprozess. Mit derselben Haltung kann man etwa ein Photographie betrachten und beispielsweise feststellen, dass sie in manipulativer Absicht gefertigt wurde. Solche Prozesse sind leichter zu erkennen, wenn man einmal eine bestimmte Gewohnheit der Bildbetrachtung entwickelt hat. Das finden wir ganz allgemein nützlich. Darüber hinaus erfährt man durch intensive Betrachtung etwas von der Qualität der Kunstwerke.

 
STIL UND VOLLENDUNG. HENDRICK GOLTZIUS UND DIE MANIERISTISCHE DRUCKGRAFIK IN HOLLAND
Kurator: Dr. Martin Sonnabend, Leiter Graphische Sammlung bis 1750
Wissenschaftliche Mitarbeit: Annett Gerlach, Städel MuseumOrt: Städel Museum, Schaumainkai 63, 60596 Frankfurt
Ausstellungsdauer: 4. Juni bis 14. September 2014
Information: www.staedelmuseum.de, info@staedelmuseum.de
Öffnungszeiten: Dienstag, Mittwoch, Samstag und Sonntag 10.00–18.00 Uhr; Donnerstag und Freitag 10.00–21.00 Uhr
Eintritt: 12 Euro, ermäßigt 10 Euro