Special Agent – übernehmen Sie!

»Die Mächte der Unordnung sind wie Kinder. Lässt man sie auf der Straße allein, ziehen sie umher und werden zu Gaunern (…). Sie werden nicht geführt. Sie sind unkontrollierbar. Es sind umherirrende Geister. Sie sind unglücklich. Jemand muss sich um sie kümmern.« Mike Assogba, Voodoo-Priester

Katalog Narren Künstler Heilige. Lob der Torheit

Buchcover unter Verwendung der Skultpur „Toi-même!“ (Selbst!), 2011, von Arnaud Labelle- Rojoux

Figuren der Halbwelt – Trickster, Possenreißer, Harlekine, Clowns, Besessene und Schamanen – stehen im Mittelpunkt der Ausstellung »Narren Künstler Heilige – Lob der Torheit« (zu sehen noch bis zum 02. Dezember in der Bonner Bundeskunsthalle) und dem dazu im Nicolai Verlag erschienenen gleichnamigen Katalog. Die Autoren fokussieren aus unterschiedlichsten Blickwinkeln die kulturübergreifende Figur des »Spezialisten für das Unbekannte«, dem Mittler zwischen Menschen- und Geisterwelt, dessen eigentliche Funktion es ist, die Mächte der Unordnung in ihre Schranken zu weisen.

Ein Special Agent, ein Mann für besondere Aufgaben, dessen Arbeitskleidung allerdings weniger unauffällig denn extrovertiert zu nennen ist. So nutzt er ein unerschöpfliches Arsenal von Masken, Draperien, Bemalungen und Acessoires um sich auch äußerlich zu transformieren, seine Menschengestalt aufzulösen und in jenen ambivalenten Zustand zwischen Mensch – Tier, Mann – Frau, Leben – Tod einzutauchen, der für die Ausübung seiner Berufung unerlässlich ist.

Aus der Fotoserie „Déchoucaj‘„ von Myriam Mihindou, Haiti, 2004-2006

Aus der Fotoserie „Déchoucaj‘„ von Myriam Mihindou, Haiti, 2004-2006

Fragile Konstruktion von Wirklichkeit

Die Autoren um Bertrand Hell, Anthropologe an der Universität von Besançon (leider enthält der Katalog keine Informationen zu den übrigen Verfassern) reflektieren dabei irritierende Phänomene und Praktiken wie »Verwandlung/Metamorphosen«, »Die Kunst der Verhandlung mit dem Unsichtbaren« oder »Die musikalische Zeit«. Sie beschreiben magisch-therapeutische Verfahren und den spezifischen Gebrauch von Musik oder Stimme und beleuchten psychedelische Erfahrungen und »Himmelsreisen«, wobei mit dem Exkurs zu den »westlichen Ayahuasca-Trinker« sogar ein Stück Drogentourismus vertreten ist. Die fesselnden Texte vermitteln aber nicht nur die aktuellen akademischen Diskurse und Positionen der Ethnologie (»Illusion der wissenschaftlichen Objektivität«) sondern tangieren auch auf beunruhigende Weise unsere eigene fragile Konstruktion von Realität und Fiktion.

Mangelnde Kontextualisierung

Seltsam inhaltsleer bleiben dagen die Aufsätze mit deutlich kunsthistorischem Kontext. Eigentlich faszinierende Fragestellungen wie nach dem »Dialog zwischen Schamanismus und Kunst« oder der »Unordnung als Mutter aller kreativen Prozesse« werden nur gestreift und geraten gelegentlich zu reinem Namedropping. Eine Reihe von Namen unter dem Etikett »Künstler als Trickster«, mit Warhol, McCarthy, P. Orridge, Kippenberger, Alice Cooper, den Wiener Aktionisten und den Chapman Bros klingt zwar äußerst cool, bleibt aber im Text von Labelle-Rojoux bloße Aufzählung. Durchweg enttäuscht dieser Teil des Katalogs durch Oberflächlichkeit und mangelnde Kontextualisierung, auch der Bezug zum begleitenden Bildmaterial erschöpft sich in der reinen Bildbeschreibung.

Klaubauf-Kostüm, Bad Mitterndorf, Österreich, 1970-1980

Klaubauf-Kostüm, Bad Mitterndorf, Österreich, 1970-1980

Ungebrochene Vitalität animistischer Praktiken

Den Mut, den die Macher bei der Gestaltung des Buchumschlags noch zeigen, lassen sie auf den Bildseiten des Katalogs dann leider vermissen. Sachlich nüchtern, immer im Satzspiegel bleibend, werden die durchweg brilliant vor neutralen Hintergründen fotografierten Exponate präsentiert. Die Abbildungen halten sich optisch gegenseitig auf Distanz, was dem Bildmaterial eine antiquiert-museale Wirkung verleiht (und als ob die Buchgestalter sich die bedrohlich-bizarren Ausstellungsstücke auf Abstand halten wollten). Ein bewusstes Nebeneinander von Exponaten mit unterschiedlichstem Background oder Datierung, wie es z.B. Alexander Roob in Alchemie und Mystik (Taschen, 1996) wunderbar gelang, vermisst man hier. Zudem verzichtet der Katalog leider durchgängig auf Detailaufnahmen, wo doch gerade die Materialität, z.B. Federn, Erde, Blut, Speichel, Exkremente in den Fetischen des westafrikanischen Volkes der Fon, und Spuren des Gebrauchs für Präsenz und Wirkung der Artefakte von immenser Bedeutung sind. Den im Vorwort formulierten Anspruch, aufzuzeigen »wie sehr Künstler aller Kulturen die Fragen von Unordnung und Ordnung, Chaos, Energie, Leben, Sinn und Leere (…) behandeln«, wird Narren Künstler Heilige nicht gerecht, jedoch dokumentiert die Publikation eindrucksvoll die überraschend ungebrochene Vitalität animistischer Praktiken und Weltbilder. Noch einmal Betrand Hell: »Neue Geister können überall auftauchen, die Kulte können sich ändern, um sie aufzunehmen. Deshalb sollte es nicht verwundern, wenn heutzutage bestimmte Schamanen im Amazonasgebiet ›Sanitäter‹ und ›chirurgische Hilfskräfte‹ (…) als Geister herbeirufen. Oder die Eingeweihten des in Venezuela sehr verbreiteten Maria-Lionza-Kults einen 1973 bei einem geheimnisvollen Flugzeugabsturz ums Leben gekommenen Fernsehmoderator beschwören.«

Helmmaske, Hopi, Arizona, 20. Jahrhundert

Helmmaske, Hopi, Arizona, 20. Jahrhundert

„Kachina-koyemshi“-Maske (Schlammkopf), Hopi, Arizona, 1900-1930

„Kachina-koyemshi“-Maske (Schlammkopf), Hopi, Arizona, 1900-1930

Rangda-Maske, Bali, 1900-1950

Rangda-Maske, Bali, 1900-1950

Narren Künstler Heilige – Lob der Torheit.
Herausgeber: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland
Nicolai Verlag Berlin 224 Seiten
€ 49,95

www.bundeskunsthalle.de

Die Ausstellung wurde ursprünglich vom Musée du quai Branly konzeptioniert und erstmalig vom 11. April bis 29. Juli 2012 in Paris gezeigt.

Alle Abbildungen © Musée du quai Branly, Paris, sowie Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH und Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH, Berlin.

Der Autor ist Zeichner und Illustrator, u.a. für die Süddeutsche Zeitung, Taz und mare.