Schwindel der Wirklichkeit

Schwindel der Wirklichkeit ist ein interdisziplinäres Projekt der Akademie der Künste zu den Konzepten und Strategien zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler, Wirklichkeit zu konstruieren bzw. zu dekonstruieren. Insbesondere durch die Entwicklung der neuen Medien von der Fotografie über das Video bis zur Digitalisierung ist die Reflexion von Wirklichkeit in den Künsten zu einem zentralen Experimentierfeld geworden. Das Projekt im Akademie-Gebäude am Hanseatenweg umfasst eine groß angelegte Ausstellung sowie ein dichtes Veranstaltungsprogramm mit über 40 Gesprächen, Konzerten, Vorträgen, Performances, Tanzaufführungen und Symposien.

Jeppe Hein Rotating Mirror Circle, 2008 Courtesy: Johann König, Berlin, 303 Gallery, New York and Galleri Nicolai Wallner, Copenhagen Foto: Anders Sune Berg Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen

Jeppe Hein
Rotating Mirror Circle, 2008
Courtesy: Johann König, Berlin, 303 Gallery, New York and Galleri Nicolai Wallner, Copenhagen
Foto: Anders Sune Berg
Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen

Die Ausstellung stellt künstlerische Strategien und Arbeitsweisen vor, in denen die Wahrnehmung des Betrachters im Zentrum steht. Das Kunstwerk verwirklicht sich nur in und durch ihn selbst. Dabei stehen die aktuellen Entwicklungen der Game Art in einer Tradition künstlerischer Auseinandersetzungen seit den 1960er Jahren, insbesondere von Closed Circuit Videoinstallationen, aber auch Performances, Partizipationsprojekten, Filmen, Fotografien und Spiegelobjekten. 44 Künstler zeigen in der Ausstellung Arbeiten an der Grenze zwischen Wirklichkeit und Simulation, darunter Alexander Bruce, Peter Campus, Thomas Demand, Olafur Eliasson, Valie Export, Christian Falsnaes, Harun Farocki, Hamish Fulton, Jochen Gerz, gold extra, Dan Graham, Magdalena Jetelová, Bjørn Melhus, Bruce Nauman, Julian Oliver/Danja Vasiliev, Trevor Paglen, Nam June Paik, Tino Sehgal, Thomas Wrede.

Zur Ausstellung agiert das von Manos Tsangaris entwickelte Metabolische Büro zur Reparatur von Wirklichkeit. Das Büro ist ein offenes Labor, eine Werkstatt, hier wird als Fortsetzung des seit November 2013 tagenden „Vorbereitungsbüros“ über künstlerische, politische und individuelle Wirklichkeiten geforscht und diskutiert. Eingeladen sind mehr als 160 Gäste aus den Bereichen Musik, Bildende Kunst, Film und Medien, Literatur, Architektur, Performance und Philosophie sowie Wissenschaftler und Studierende eines weit gespannten universitären Netzwerkes. Online präsentiert sich das Projekt mit Live-Streams, Videos, Interviews und einem Journal auf der Internetseite www.schwindelderwirklichkeit.de.

Zur Ausstellung

Wie der Betrachter die Kunst neu erfindet

Nach Fotografie, Film und Video sind es seit den 1990er Jahren vor allem die digitalen Medien, die das Verständnis von Kunst grundlegend verändert haben. In der digitalen Medienkunst wurde insbesondere die Interaktion zu einer der zentralen ästhetischen Dimensionen. Der Übergang zwischen digitaler Information und analogem Nutzer ist dabei von besonderem Interesse. Die Schlüsselbegriffe Partizipation und Interaktivität basieren auf dem unausgesprochenen Versprechen der Teilhabe aller im Sinne einer Beuys’schen Demokratisierung von Kunst. Schwindel der Wirklichkeit präsentiert künstlerische Strategien, in denen die Wahrnehmung und die Aktivität der Besucherinnen und Besucher ins Zentrum rücken und das Kunstwerk sich jenseits des Objekthaften gleichsam nur in ihnen und durch sie verwirklicht. Dieser Ansatz verdichtet sich im Metabolischen Büro zur Reparatur von Wirklichkeit als permanente Recherche. Was aber ist wirklich, was ist Simulation? Mit der Auflösung des klassischen Kunst-Objekts und des Betrachter-Subjekts hat sich auch der Kunstbegriff radikal verändert. In ausgewählten Closed-Circuit-Installationen, Spiegelarbeiten, Partizipations- und Performanceprojekten, Games und künstlerischen Arbeiten, die an der medialen Schwelle agieren, widmet sich die Ausstellung dem Spiel mit der Wirklichkeit und der Simulation. Nicht nur der experimentelle Gebrauch vorhandener technologischer Möglichkeiten, sondern auch deren ästhetische Weiterentwicklung eröffnet den Künstlerinnen und Künstlern Möglichkeiten einer innovativen Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung und Manipulation von Realität, in der nicht nur Künstler und Betrachter, sondern auch Raum und Zeit, Bild und Abbild, Code und Körper, Wirklichkeit und Simulation neu erprobt und ausgelotet werden.

Closed Circuit

Erst die unmittelbare Verfügbarkeit von Videobildern, deren zeitgleiche Manipulationspotentiale und/oder die räumlich getrennt zu steuernde Wiedergabe des Bildes oder Spiegelbildes ermöglichten es, den Betrachter selbst als Zuschauer und als Performer an einer Installation teilhaben zu lassen. Die Möglichkeiten der Gegenüberstellungen erscheinen heute endlos, in den 1960er Jahren jedoch ging es um eine simple Subjekt/Objekt-Gegenüberstellung, um deren Verhältnis zueinander und um die Synchronizität der Handlung. In den Closed Circuits und Spiegel-Verfahren wird der Betrachter mit neuen Wahrnehmungserfahrungen von Wirklichkeit in einem sich stetig aktualisierenden Raum-Zeit-Körper-Medien-Gefüge konfrontiert. Die Spiegelbilder und die Videobilder hängen von den Bewegungen der Körper im Raum, von der Positionierung des Spiegels oder der aufzeichnenden Kamera und von den Einstellungen des Manipulationsmechanismus ab. Diese Art der medialen Inszenierung von Wirklichkeit entzieht dem Betrachter die gewohnte Selbstwahrnehmung.

Partizipation

Die Relation von Subjekt und Objekt, von Künstler, Betrachter und Akteur hat sich seit der radikalen Veränderung des Verhältnisses zwischen Kunstwerk und Betrachter in den 1960er Jahren maßgeblich weiterentwickelt: Die Partizipationskunst ermöglicht der Besucherin und dem Besucher, als Performerin und Performer an kommunikativen, interaktiven und Wirklichkeit konstruierenden Prozessen teilzunehmen. Kunst findet nicht nur im Ausstellungsraum statt, sondern weitet sich zunehmend (wieder) in den gesellschaftlichen und politischen Raum aus. Wie aber funktioniert das Machtverhältnis im objektfreien Kunstwerk? Wer kontrolliert die ästhetische Erfahrung? Künstler, Kurator, Kritiker oder Betrachter? Im Bereich der von Joseph Beuys geprägten „Sozialen Plastik“ und der Partizipationskunst kontrollieren alle Faktoren gemeinsam das Werk und jedem ist eine Teilautorschaft zuzuschreiben. „Wir erwarten zu viel von Objekten, zum Beispiel, dass sie Subjektivität generieren“, beteuerte Tino Sehgal 2012. Diese Subjektivität, so der Künstler weiter, „entsteht aber durch Arbeit an sich selbst und Interaktion mit anderen. Und nicht dadurch, dass man sich irgendeinen Gegenstand kauft und anheftet.“

Game Art

Seit zirka 1995 entwickeln Künstler Computerspiele und ergründen die ästhetischen Potentiale des Mediums. Während sie sich zunächst häufiger mit der visuellen Repräsentation der Spiele beschäftigten, richten zeitgenössische Game Artists ihre Aufmerksamkeit vor allem auf das Eigentliche des Mediums: die interaktiven Strukturen der Programme, die Spielmechanik, die den Spielern klar definierte Handlungsoptionen vorschreiben. Dabei unterlaufen sie etablierte Interaktionsmuster zugunsten ungewohnter Modalitäten des In-der-simulierten-Welt-Seins. Computerspiele bestehen stets aus geschlossenen Kreisläufen, die erst durch die partizipative Performanz des Spielers aus der Potentialität in die Aktualität treten. Nur wenn man sich auf das programmierte Regelwerk eines Spiels einlässt und über das Interface in einen zirkulären Informationsaustausch tritt, nur wenn man an diesem kybernetischen Kreislauf partizipiert, kommt es zu einer Teilhabe an der angebotenen ästhetischen Erfahrung, in der Reales, Symbolisches, Imaginäres und Virtuelles miteinander gekoppelt werden.

Die mediale Schwelle

Der Fokus auf die mediale Schwelle hebt die zentrale Eigenschaft des Medialen selbst hervor, die den Medienbegriff für die Beschäftigung mit der Kunst so wertvoll macht: Als eben das, was „dazwischen“ liegt, was als Instanz, Material, Technik und Praktik zwischen dem Herstellen und dem Rezipieren von Kunst vermittelt, wird das Medium selbst zur Schwelle der Kunst. Dies erlaubt eine neue Perspektivierung der anderen Arbeiten – ob Closed-Circuit-Installation, Partizipationsprojekt oder Game Art – und hat zugleich einen eigenen Kernbestand in der Ausstellung. Er umfasst Arbeiten, die sich genau in der Übergangszone von Simulation und Dissimulation, Rollenspiel und inszenierter Authentizität, technologischer (An-)Ästhetik und künstlichem Naturalismus bewegen. Dieser Strang der Ausstellung verweist auf die zeitgenössische mediale Situation, in der vermeintlich geschlossene Kreisläufe geöffnet werden, Wirklichkeit sich verflüchtigt und Unsichtbares sowie Unvorhergesehenes in Erscheinung tritt.

Kuratoren: Mark Butler, Anke Hervol, Wulf Herzogenrath, Niels Van Tomme
Projektleitung: Anke Hervol, Ulrike Roesen, Johannes Odenthal, Mechthild Cramer von Laue (Begleitprogramm)
Projektassistenz: Katharina Bergmann, Klara Hein, Janina Niendorf
Realisierung: Ausstellungs- und Veranstaltungstechnik der Akademie der Künste, Simone Schmaus, Jörg Scheil, Mount Berlin
Registrare: Catherine Amé, Stefan Kaltenbach
 
www.adk.de