Verbundenheit oder X=Hase

»Meret Oppenheim muss entdeckt, nicht wiederentdeckt werden«, da sind sich Gereon Sievernich, Direktor des Martin-Gropius-Baus, und Ingried Brugger, Direktorin des Kunstforum Bank Austria, deren Institut die Ausstellung ermöglicht hat, einig. Denn die Rezeption ihres Werks wird bis heute weitgehend von zwei Ereignissen bestimmt, die den frühen internationalen Ruhm der 1913 in Berlin geborenen Künstlerin begründeten, aber auch eine Vorstellung etablierten, gegen die sich die Künstlerin zeitlebens gewehrt hat: Da ist jene skandalträchtige Aktfotoserie Érotique voilée von Man Ray aus dem Jahr 1933, auf denen die Zwanzigjährige farbbeschmiert an der Druckerpresse posiert (siehe Abb.). Und dann die 1936 in André Bretons Ausstellung Exposition surréaliste d’objets gezeigte »Pelztasse«, die Alfred H. Barr für die Sammlung des Museum of Modern Art New York ankaufte. Reduzieren die Aktaufnahme sie zur Muse der Surrealisten, so überschattet das erotisch aufgeladene Tassenobjekt das vielfältige Gesamtwerk, welches doch gerade erst im Entstehen war. Den Titel Das Frühstück im Pelz erfand übrigens Breton, Oppenheim selbst hatte ursprünglich eine rein deskriptive Bezeichnung gewählt.

Dabei lassen diese Ereignisse, zumal von heute aus, ganz andere Lesarten zu: Erstens beeindruckte offenbar schon die junge Meret Oppenheim durch ihre charismatische Erscheinung und einen starken Unabhängigkeitsdrang. Mag sie auf den Fotos auch in passiver Pose ein Beispiel für das surrealistische Ideal der Kindfrau abgeben – allein die Tatsache, dass die junge Künstlerin überhaupt für die Aufnahmen zu Verfügung stand, kann als Ausdruck von Experimentierfreude gewertet werden. Zweitens steht das Thema Erotik bereits ganz am Anfang ihres Künstlerlebens – und wird bis zum Ende durchhalten. Drittens konnte sie dem von den Surrealisten in Isidor Ducasses Gesängen des Maldoror entdeckten Schönheitsprogramm der »unvermuteten Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch« mit schöpferischem Eigensinn immer wieder neu Form verleihen. Viertens gehören Spiel und Provokation zu den tragenden Säulen ihres Schaffens.

Das Werk von Oppenheim wird vom Vorwurf mangelnder Geschlossenheit begleitet: zu vielfältig die Themen, Materialien, Techniken. Zusammenhanglos sei das Ganze (und eben kein Ganzes), ja beliebig. Dem möchte man in der in über zweieinhalb Jahren zusammengestellten Retrospektive, die vor Berlin schon mit Erfolg in Wien gezeigt wurde, entgegenwirken. Ohnehin ist die Dürftigkeit des Einwands offenbar: ein disparates Werk zerfällt nicht zwangsläufig in Einzelteile, denn gerade hier ist eine treibende Kraft für den inneren Zusammenhalt gefordert. Es ist die Person selbst, die als zentraler Fluchtpunkt alle Bewegungen auf sich vereint – und gleichzeitig erst dadurch entsteht. Das Phantasma der Ganzheit wird dadurch nicht notwendiger Weise eingeholt. Dennoch: »Es gibt eine innere Logik und es offenbaren sich rote Fäden«, erklärt Heike Eipeldauer, Kuratorin der Ausstellung.

Gleichwohl eignet dem Werk etwas Beiläufiges, doch was heißt das schon. Leichtigkeit wäre vielleicht auch eine bessere Bezeichnung, die wiederum die Gefahr birgt, einen krisenfreien Lebenslauf dahinter zu vermuten. Doch Oppenheim kannte Krisen, auch längere. Die Durchsetzung und Durchhaltung ihrer Unabhängigkeit bedeutete eine lebenslange Aufgabe, die nur kämpferisch zu meistern war. Alle Gesellschaften unterdrücken ihre Individuen, die bürgerliche, die so gerne lauthals ›Freiheit‹ für sich reklamiert, macht da keine Ausnahme, sie ist eher noch besonders perfide in ihren Unterdrückungsstrategien. Meret Oppenheim hat dies als Künstlerin besonders gespürt und zu spüren bekommen. Nachdrücklich formulierte sie das in ihrer Rede zur Verleihung des Kunstpreises der Stadt Basel 1975: »Bei den Künstlern ist man es gewöhnt, dass sie ein Leben führen, wie es ihnen passt – und die Bürger drücken ein Auge zu. Wenn aber eine Frau das gleiche tut, dann sperren sie alle Augen auf.«

Zu den roten Fäden, an denen die Ausstellung aufgereiht ist, gehören Verschlüsselte Selbstdarstellungen, die schon erwähnten Erotischen Objekte, Im Dialog mit der Natur, Träume und das Unbewusste, Metamorphosen und »fabelhafte« Phantasien, Dem Unsichtbaren auf der Spur, Bild und Text, Spiel als künstlerische Strategie. Das »impulsgesteuerte Vielfältige«, wolle man herausstellen, erläutert Gereon Sievernich, und Eipeldauer ergänzt, ihr sei es darum gegangen, »das Werk in seinem ungeheuren Spektrum zu zeigen.« Oppenheim war eine unangepasste Grenzgängerin, das eint ihr Werk und kommt bereits in einer Schulheftcollage der Sechzehnjährigen zum Ausdruck: »x = Hase«. Das muss man nicht, das darf man nicht erklären. Oppenheim hat einmal gesagt, sie mache »keine Illustrationen eines Denkens, sondern die Sache selbst.«

Man wird ihr also nicht gerecht, wollte man in ihr nur die Grande Dame des Surrealismus sehen – nicht die schlechteste Auszeichnung, immerhin. Doch im Ausstellungstext zu Im Dialog mit der Natur entdeckt man das Stichwort für einen geeigneteren Zugang zum Oeuvre: Verbundenheit. Der Satz, in dem das Wort auftaucht, beschreibt Oppenheims Naturverhältnis: »Immer wieder betont sie ihre tiefe Verbundenheit mit der Natur und die Notwendigkeit eines ökologischen Bewusstseins.« Es liegt nahe, in dieser Fähigkeit zur »tiefen Verbundenheit« ein bildendes Prinzip zu entdecken. Eine Verbundenheit, die grenzenlos ist, die sich immer wieder neu verknüpft. Darüber gibt auch ihr »auf das Jahr 60.000 v. Chr. zurückgreifende[s] Kryptoportrait« von 1980 Auskunft. Ebenso ihre erotischen Objekte, die sich einer männlichen dominierten Imagination von Weiblichkeit verweigern, der sie ihre »Konzeption eines androgynen Künstlertums« entgegensetzt, wie Heike Eipeldauer im begleitenden Katalog schreibt. Dann ihre Ausflüge in die Modewelt, ihr Schmuckdesign. Ihre Texte, Gedichte, die gleichrangig mit den Bildwerken dastehen. Schließlich der Stellenwert des Traums für ihr Leben und Werk. Schon als Vierzehnjährige beginnt sie, ein Traumtagebuch zu führen, das sie später veröffentlicht. Überall stehen die Zeichen auf Überschreitung, Entgrenzung, Verbindung. Darin bleibt sie zeitlebens dem Surrealismus verbunden, aus dessen Männerbund sie sich aber schon früh verabschiedete. Vom Feminismus, dem sie zur Identifikationsfigur wurde, ließ sie sich jedoch ebenso wenig vereinnahmen. Ausstellungen, die ausschließlich Arbeiten von Frauen zeigten, verweigerte sie ihre Teilnahme.

Zur Verbundenheit gehört die Verbindung, die als zentrales Konzept dem künstlerischen Schaffen Meret Oppenheims zugrunde liegt. Das Verbinden von Motiven, Materialien und Medien formt eine Spielregel, und somit die Wirklichkeit ihrer Kunst, eben »die Sache selbst«. Es sind sicher ihre großen surrealistischen Objekte wie Hm-hm oder Octavia, beide aus dem Jahr 1969 (Abb. rechts), oder die Masken aus den dreißiger und siebziger Jahren, in denen diese Wirklichkeit ihre eindrucksvollste Form findet. Eine Form, die der Künstlerin zufolge, dem Einfall immer mitgegeben ist. »Jeder Einfall wird geboren mit seiner Form«, sagt Oppenheim. »Ich realisiere die Ideen, wie sie mir in den Kopf kommen. Man weiß nicht woher die Einfälle einfallen; sie bringen ihre Form mit sich, so wie Athene behelmt und gepanzert dem Haupt des Zeus entsprungen ist, kommen die Ideen mit ihrem Kleid.« Ein schöner Satz, er mag stimmen oder nicht. Zweifellos strahlt er eine ungeheure Erleichterung aus: Kein mühsames Ringen, keine schwere Geburt, keine schlimme Kindheit. Ideen kommen aus dem Nichts und übergeben sich in vollendeter Form an die Künstlerin, mit dem Auftrag zur Realisierung. Es bedürfte nicht einmal der Götterwelt, diesen Gedanken zu rechtfertigen. Wer schon mal eine Schildkröte, ein Krokodil oder eine Schlange als Miniaturausgabe des erwachsenen Tieres aus dem Ei hat kriechen sehen, weiß, dass die Natur solche Modelle bereit hält. Nur eben nicht für den Mensch, dem, wäre für ihn der Eintritt in die Welt nicht so beschwerlich, Oppenheims Erkenntnis selbstverständliche Gewissheit wäre.

Deckt sich das Bild der Fertiggeburt einerseits mit der »impulsgesteuerten Vielfältigkeit«, mutet es andererseits etwas wunderlich an, dass ausgerechnet die wandelbare Künstlerin Meret Oppenheim darin ihre künstlerische Erfahrung verkörpert sah. Matthias Frehner schreibt im Katalog, die Künstlerin »schöpfte ihre Bildwelten aus sich selbst.« Dies heißt aber, die Einfälle fallen eher aus als ein, sie entspringen eben, wie Athene dem Haupt des Zeus, einem Reservoir, das die Künstlerin selbst ist, sich gleichwohl ihrer Kontrolle entzieht. Die Vermutung, es handele sich dabei um das Unbewusste, drängt sich auf. Dessen Bedeutung ist für Meret Oppenheims Werk und Selbstverständnis unbestritten. Und man spürt dabei eine beruhigende Selbstgewissheit, über die sie offenbar verfügte. Wie immer sie zu diesem Geschenk gekommen ist, sie hat es weitergereicht. An den Betrachter ergeht daher die vergnügliche Aufgabe, der Künstlerin zu glauben.

Meret Oppenheim. Retrospektive
16. August 2013 – 01. Dezember 2013
Öffnungszeiten:
Mittwoch bis Montag 10 – 19 Uhr, Di geschlossen Veranstalter: Berliner Festspiele.
Eine Ausstellung des Martin-Gropius-Bau Berlin und des Bank Austria Kunstforums Wien. Gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds. Mit freundlicher Unterstützung von Pro Helvetia.
Kuratorin: Heike Eipeldauer
Katalog
Meret Oppenheim. Retrospektive Heike Eipeldauer, Ingried Brugger, Gereon Sievernich
Hatje Cantz 2013
312 Seiten mit 264 Abbildungen, Gebunden
Preis: 25 € Museumsausgabe 39,80 € im Buchhandel www.gropiusbau.de