Einer weit verbreiteten Auffassung zufolge gibt das beste, das gelungenste Bild die äußere Wirklichkeit perfekt wieder. Diese Bildauffassung hat ihre Wurzeln in der Antike und erfreut sich bis in unsere Tage einer anhaltenden Beliebtheit – allen Bemühungen der Moderne zum Trotz. Mit dem als Trauben des Zeuxis bekannt gewordenen Wettstreit zwischen den antiken Malern Zeuxis und Parrhasios verfügt die abendländische Geschichte über ein frühes Zeugnis für den Lobtopos des lebensechten Bildes. Zeuxis, so heißt es in der von Plinius (5. Jhdt. v. Chr.) überlieferten Legende, malte Trauben so naturgetreu, dass die Vögel kamen, daran zu picken. Er selbst aber versuchte den – ebenfalls nur gemalten – Schleier vom Bild des Parrhasios zu entfernen und unterlag im Wettstreit. Zeuxis konnte Vorbild und Abbild nicht unterscheiden, in seiner Wahrnehmung fiel beides zusammen. Im »gelungenen Abbild«, schreibt der Bildwissenschaftler Gottfried Boehm, »nistet eine Bild aufhebende Kraft«(1), .
Mit dem Anspruch der Wirklichkeitsverdopplung operiert auch die vor allem in den Massenmedien eingesetzte digitale Bildbearbeitung: Unter der Zielvorgabe einer nahtlosen Integration werden entweder nach gängigem Alltagsverständnis zusammengehörende, aber für den Fotografen nicht gleichzeitig verfügbare Dinge, oder solche, die normalerweise nicht am selben Ort anzutreffen sind – Tiger in der Antarktis o. ä. –, bis hin zu reinen Erfindungen, mit bisweilen hohem technischen Aufwand zusammenmontiert. Stets werden sie in einem einheitlichen perspektivischen Bildraum so angeordnet, dass ein mit dieser Darstellungskonvention vertrauter Betrachter deren Wirklichkeitsanspruch bereitwillig zustimmen kann. Es geht nicht darum, die Gemachtheit des Bildes herauszustellen. Selbst wenn man berücksichtigt, dass die perfekte Illusion auch stets ein Beweis virtuos beherrschter Technik ist, welche der Rezipient gleichzeitig mit zu würdigen hat und will, soll doch die Darstellung an der realen Existenz von Dingen, Wesen und Landschaften, und seien sie noch so phantastisch, keinen Zweifel aufkommen lassen.
Im Namen der ästhetischen Leitidee ›Fotorealismus‹ schreibt die zeitgenössische Bildindustrie eine Tradition fort, die bereits wenige Jahre nach Erfindung der Fotografie 1837 durch Louis Daguerre (1787–1851) und William Henry Fox Talbot (1800–1877) einsetzte. Die Manipulation der Wirklichkeit im Bild zählt zu den wichtigen Wesensmerkmalen der Fotografie und ist die treibende Kraft hinter der technischen Weiterentwicklung. Wie leistungsfähig die manipulativen Verfahren bereits in ihrer Anfangsphase waren, belegen eindrucksvoll die berühmt gewordenen Fotomontagen von Oscar Gustave Rejlander (1813–1875) oder Henry Peach Robinson (1830–1901) aus den späten 1850er Jahren (Abb. 1). Dafür wurden zunächst die einzelnen Personen nacheinander fotografiert, anschließend fügte man die so entstandenen Negative zusammen. Dabei mussten alle Teile, die in der späteren Komposition nicht zu sehen sein sollten, abgedeckt werden. Ein Verfahren, das man als Maskierung bezeichnet und das auch in der digitalen Bildbearbeitung noch eingesetzt wird.
Anders als in der Montage werden bei dem Kombinationsverfahren der Collage die einzelnen Bildelemente nicht bruchlos aneinander gefügt. Statt die unterschiedliche Herkunft des Bildmaterials oder den manipulativen Eingriff zu verheimlichen, wird er demonstrativ vorgeführt. So wird zur Auseinandersetzung mit bildnerischen Techniken und Strategien aufgefordert, was beim Illusionsanspruch der Montage zumeist nicht gewünscht ist.
Ein ikonoklastischer Akt
Der polnische Künstler Michal Martychowiec greift in seinen Serien Vanito Vanitas I & II (2) zwar auf Verfahren der Montage zurück, setzt diese aber für die sichtbare Verfremdung einer Reihe von barocken Gemälden ein. Das Ergebnis lässt sich eher als Collage bezeichnen.
Martychowiec fotografiert zunächst mit einer Großformatkamera die Gemälde, anschließend werden im Entwicklungsprozess Teile der Bilder maskiert, also abgedeckt, und daher nicht belichtet, weshalb das Fotopapier an diesen Stellen weiß bleibt. Anstelle des heute üblichen, viel schnelleren und flexibleren digitalen Verfahrens mittels Photoshop, wählt er eine analoge Technik, die es nicht erlaubt, etwaige Fehler rückgängig zu machen, bei der eine falsche Entscheidung oder Unachtsamkeit das Bild zerstört und zur Wiederholung des gesamten Vorgangs zwingt. Photoshop ermöglicht dagegen eine nicht destruktive Arbeitsweise, bei der Fehler jederzeit rückstandslos korrigiert werden können.
Die nicht belichteten Stellen der Serie Vanito Vanitas I (2010) entsprechen in den Umrissen einem Bilddetail (Abb. 2), diejenigen von Vanito Vanitas II (2011) kontrastieren das Motiv in Form eines einfaches Rechtecks (Abb. 5). Dieser eigentlich sehr einfache Eingriff ins Bild entfaltet auf mehreren Ebenen eine komplexe Wirkung.
Zunächst kann man darin einen ikonoklastischen Akt erkennen, eine bewusste Provokation. Was treibt den Künstler dazu, die wohlgestalten Meister derart zu verstümmeln? Die an das illusionistische Kontinuum gebundene Atmosphäre ist verschwunden, wir sind um unseren Bildgenuss gebracht. Unsere Empörung hält sich freilich in Grenzen, haben wir uns doch lange schon an die provokanten Strategien der Kunst gewöhnt. Vielleicht reagieren wir auch mehr mit Verblüffung und Überraschung als mit Verärgerung, vielleicht sogar belustigt. Denn das Ergebnis entbehrt nicht einer gewissen Komik.
Nüchtern betrachtet ist an der Stelle das Bild verschwunden, statt dessen kommt der blanke Bildträger zum Vorschein. Die Kontinuität des Motivs wird zerstört, der Fehler im Gefüge unterbricht die Illusion und verweist so auf jegliche Gemachtheit des Bildes – also nicht nur Martychowiecs Fotografie des Gemäldes, sondern auch des Gemäldes selbst. Aha, denkt der Betrachter (vielleicht), Bilder sind gemacht – und weiter? Es bleibt nicht bei dieser Feststellung, denn immer noch stehen wir vor einem Bild, das unsere Stellungnahme fordert. Wir können durch die weißen Flächen nicht einfach in eine Welt des Nicht-Bildes entweichen. Erstens gibt es einen unversehrten Teil des Originals, zweitens verhalten sich die Fremdkörper ihrerseits wie Bildelemente. Selbst unstrukturiert, strukturieren sie das Vorhandene neu, sie machen aus dem Bild kein Nicht-Bild.
Form und Position des Lochs oder Flecks spielen eine wichtige Rolle. Entspricht diese einem im Bild dargestellten Gegenstand, so liegt der – vielleicht etwas naive – Gedanke nahe, jemand habe diesen Gegenstand aus dem Bild entfernt. Der Eingriff findet im Illusionsraum des Bildes statt. Der Fleck ist eine Lücke, die, indem sie den Bildträger sichtbar macht und die Illusion unterbricht, gleichzeitig daran festhält, weil sie mit ihrem Umriss weiterhin den Wirklichkeitsanspruch des Bildes behauptet. Aus dem Bild, so scheint es, wurde etwas entwendet, wie man nur aus einem realen Raum etwas entwenden kann. Und man wird sich vielleicht umsehen, ob nicht der fehlende Gegenstand in der Nähe des Bildes zu entdecken sei, dass man ihn wieder an seinen Platz zurückbringen könne. Im Unterschied zum dreidimensionalen Raum, wo das Entfernen eines Gegenstandes den dahinter liegenden, zuvor von eben jenem Gegenstand verdeckten Bereich freigibt, gibt es in der Fotografie kein Dahinter (im Gegensatz zum digitalen Bild, welches, wie ein Bühnenbild, aus sich überlagernden Schichten bestehen kann).
Der unwillkürliche Versuch, das Bild zu vervollständigen, gehört zum Wahrnehmungsvorgang als solchem und wird als Induktion bezeichnet. »[…] Wahrnehmungsinduktionen unterscheiden sich von logischen Schlüssen«, schreibt der Wahrnehmungspsychologe Rudolf Arnheim, »Schlüsse sind Denkprozesse, die den gegebenen sichtbaren Tatsachen etwas hinzufügen, indem sie sie deuten. Wahrnehmungsinduktionen können Einfügungen sein, die sich auf vorher erworbene Kenntnisse stützen. In der Regel sind es jedoch Ergänzungen, die während der Wahrnehmung spontan von der gegebenen Formkomposition hergeleitet werden.« (3) Induktionsleistungen findet sowohl auf der formalen als auch auf der inhaltlichen Ebene statt.
Zeigen und verbergen: Silhouette, Fleck und Maske
Die Lücke im Bild gibt dem Betrachter ein Rätsel auf. Statt eines Körpers, sehen wir nur noch eine Fläche. Weil die Silhouette deutlich weniger Information enthält als die ausgearbeitete Gestalt mit ihrer Binnenzeichnung, gibt sie über die Identität des fehlenden Objektes nur bedingt Auskunft. Es handelt sich um eine Spur, einen indexikalischen Verweis, der uns anregt, im Geiste das Bild zu vervollständigen. Es gibt immer noch genügend Information, um durch Wahrnehmungsinduktion sogleich eine bestimmte Vorstellung von dem Gegenstand zu entwickeln, mit der wir die Fehlstelle ausfüllen. Aus unserem eigenen Vorrat an gespeicherten Bildern, deren Gesamtheit unsere Realitätsvorstellung und damit unsere Wirklichkeit ausmacht, füllen wir die Lücke, die daher zugleich im Bild und in der Welt ist. Die Lücke hat die Kraft unsere Phantasie anzuregen; was im Bild fehlt, ist in uns vorhanden, und indem wir das Bild ergänzen, bestätigen wir dessen Illusionsanspruch. Das Bild fordert unsere Unterstützung, die wir bereitwillig leisten. Im Spiel mit der Wahrnehmung wird die abbildorientierte Bildauffassung gleichzeitig hinterfragt und bestätigt.
Auch wenn die weißen Flecke spontan wie Löcher erscheinen, sie lassen sich eben so gut als aus Papier geschnittene Silhouetten vorstellen, welche über das Bild gelegt wurden. Sie ähneln klassischen Scherenschnitten, die nach einem Schattenriss entstehen und ebenfalls nur die äußere Kontur eines Objektes oder einer Person zeigen. Allerdings werden Schattenrisse von Personen stets vom Profil abgenommen, was hier nicht der Fall ist, entweder weil sich der Maler entschieden hat, beispielsweise den Totenschädel frontal zu zeigen, oder weil, wie bei einer Tulpe, die Unterscheidung von Profil und Frontalansicht wegfällt.
Scherenschnitte erfreuten sich im 18. Jahrhundert großer Beliebtheit als unterhaltsames Gesellschaftsspiel. In den Rang einer künstlerischen Technik wurden sie bereits von dem Maler Philipp Otto Runge (1777–1810) gehoben, als solche ernst genommen werden sie aber wohl erst heute. Wichtiger an dieser Stelle ist aber ihre Bedeutung für die Physiognomik des Schweizer Pfarrers und Philosophen Johann Caspar Lavater (1741–1801). Die Physiognomik, die nicht Lavaters Erfindung ist, sondern in der Antike entwickelt wurde, geht davon aus, dass sich das im Inneren verborgene Wesen eines Menschen an dessen Gesichtszügen ablesen lässt. Lavater verwandte etliche Jahre seines Lebens darauf, die Physiognomik als positive Wissenschaft zu etablieren. In seinen Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (1775–1778) behauptete er, »die Physiognomik besäße ›die Fertigkeit durch das Äußerliche eines Menschen sein Inneres zu erkennen …‹« (4), wie Hans Belting in seinem Buch Faces. Eine Geschichte des Gesichts berichtet. Belting schreibt weiter: »Da das Gesicht von Hause aus ein Bild war, musste es sich auch angemessen in Bildern wiedergeben lassen. Die ›Ähnlichkeit‹, die ein Gesicht mit einem Charakter verband, würde sich auch auf die Abbildung übertragen.« (5) Lavater meinte den Charakter einer Person nicht nur beim persönlichen Vis-à-vis mit scharfem Blick erfassen zu können, ihm genügten in der Regel Kupferstiche. Mehr noch war er der Überzeugung, gerade die Kontur des Profils sei für die Charakteranalyse entscheidend, weshalb der Physiognomiker erst im Schattenriss das ideale Forschungsmaterial vorfände. Die Konturlinie biete methodische Vorzüge, weil sie sich besonders gut mathematisch beschreiben, in Strecken, Winkel und Proportionen aufteilen lässt und so »eine authentische Wiedergabe des Gesichts« (6) erlaube (Abb. 4 & 5). Indem der Schattenriss das Gesicht weitgehend zum Verschwinden bringt, wird erst das innere Wesen des Dargestellten lesbar. Die Physiognomik entdeckt in der Silhouette die Dialektik von Verbergen und Zeigen, wie sie, wovon gleich noch die Rede sein wird, für die Maske charakteristisch ist.
Zuvor möchte ich noch kurz auf eine ganz ähnliche Idee aufmerksam machen, die den um eine Generation jüngeren schwäbischen Mediziner und Dichter Justinus Kerner (1786 – 1862) zeitlebens umtrieb. Kerner faszinierte die bildnerische Kraft von Tintenflecken auf Papier: Er wollte in den amorphen Formen Signaturen eines verborgenen Geisterreichs erkennen und betrieb die Erforschung mit wissenschaftlicher Überzeugung und Hingabe. Seine Kleckse bezeichnete er »ganz ironiefrei als ›Daguerreotype einer unsichtbaren Welt‹«. (7) Die Klecksografien zeigen noch weniger als die Silhouetten, nämlich zunächst gar nichts. Doch die Unbestimmtheit der geklecksten Formen erlaubt es, alles Mögliche darin zu erkennen. Kerner schreibt in einem Brief an die Schriftstellerin Ottilie Wildermuth: »Die sonderlichsten Abbildungen und Figuren ergeben sich […] ganz von selbst, ohne mein Zutun, wie die Bilder in einer photographischen Kamera. Du kannst nie hervorbringen, was Du möchtest und erhältst oft das Gegenteil von dem, was Du erwartest.« (8) Auch hier lassen die inneren Kräfte oder Spannungsverhältnisse im Bild (Klecks) durch Induktion Gruppierungen, Richtungen, schließlich Gestalten hervortreten.
Den Weg von der Silhouette über den Fleck weiter fortsetzend, gelangt man zur Maske, deren visuelle und funktionale Eigenschaften bereits vorweggenommen wurden. Die Maske ist »als Medium des Gesichts«, (9) wie Hans Belting sagt, geradezu der Prototyp eines zeigenden Verbergens: Sie verbirgt das natürliche Gesicht und zeigt an der Stelle ein anderes. Konstitutives Merkmal ist der starre Ausdruck der Maske, ihr fehlt die Mimik des Gesichts. Im antiken Theater vereinfachte die Maske die »Lesbarkeit des Gesichts«, (10) man brauchte sie, um einen Typus darzustellen, nicht eine Person. In dieser Hinsicht ähnelt sie den Silhouetten Lavaters, dem es ja ebenfalls um Charaktertypen ging. Gleichzeitig sitzt sie wie ein Fleck auf dem »bewegten, veränderlichen« Gesicht, welches sie verbirgt, während sie ein unbewegliches anderes zeigt, »einen absoluten Ausdruck«. (11) Die Maske ist eine eingefrorene Mimik des Gesichts, welches seinerseits über maskenartige Eigenschaften verfügt. Weil wir ein ›Gesicht machen können‹, weil wir uns verstellen können und über die Fähigkeit verfügen, unser ›wahres Gesicht‹ nicht zeigen zu müssen, gilt auch das Gesicht in gewisser Weise als Maske. »In diesem Sprachgebrauch erweist sich der gemeinsame Bildcharakter von Gesicht und Maske: Das eine Bild verwandelt sich in ein anderes«, erklärt Belting. Aber »[e]rst seit der Aufklärung sind wir gewohnt, diesen gemeinsamen Bildcharakter zu leugnen und Gesicht und Maske als Gegensatz zu sehen: das Gesicht als Bild des Ich und die Maske als Fälschung des Ich.« (12) Doch der Aufklärer Lavater nahm Bilder von Gesichtern, die mehr eine Maske waren, welche er aber als Bilder des Ich las.
Gesicht und Maske können als Bild aufgefasst werden, ebenso wie Klecks und Silhouette. Allen gemeinsam ist der dialektische Charakter von Zeigen und Verbergen. Über diese Eigenschaft verfügen sie wohl genau deshalb, weil sie Bilder sind. Da Bilder niemals alles zeigen können, verbergen sie, indem sie etwas zeigen, immer auch etwas anderes.
Vom Rechteck zum Pixel und zurück
Auf den Bildern der Serie Vanito Vanitas II begegnen uns Flecke in rechteckiger Form. Hier werden Wahrnehmung und Kognition ganz anders herausgefordert. Während der individuelle Umriss eines Objektes kaum von diesem abzulösen ist, ist ein Rechteck eben das, was es ist: ein Rechteck; Zeichen und Bezeichnetes fallen in eins. Folglich lässt sich in dem Rechteck leichter ein Fremdkörper erkennen, der dem Bild hinzugefügt wurde. Auf Ebene der Bildkomposition aber stehen Position, Größe und Proportion zum Bildformat in einem »Wechselspiel zwischen gerichteten Spannungen«. (13) Und wenn sich diese Rechtecke gegenüber dem Bildinhalt eher gleichgültig verhalten, so sind sie doch nicht vollkommen ›blind‹. Über spontane Wahrnehmungsinduktion und logische Schlüsse werden Betrachter die Stelle(n) zu ergänzen suchen. Dem kunsthistorisch Erfahrenen wird es dabei leichter fallen, die passenden ›Bausteine‹ zu finden, als solche mit nur geringem Bilderwissen.
Wenn oben gesagt wurde, beim Rechteck fallen Zeichen und Bezeichnetes zusammen, so bedarf dies einer Ergänzung. Denn wenigstens zwei Ereignisse in der jüngeren Geschichte haben das Rechteck zu einem wirkmächtigen Zeichen erhoben. Seit dem Konstruktivismus und seit Malewitschs Schwarzem Quadrat lässt sich in der Kunst nicht mehr unvoreingenommen vom Rechteck sprechen. Viel stärker in unser aller Alltag eingedrungen aber ist die quadratische Minimaleinheit des digitalen Bildes, das Pixel. Hatte Malewitsch mit maximaler Reduktion eine Ikone der Moderne geschaffen – bekanntlich montierte er das Bild in der Ausstellung 0 – 10 im Jahr 1915 »unter der Saaldecke, und zwar über Eck […]. Es nahm damit jenen prestigeträchtigen Platz ein, der in einem orthodoxen russischen Privathaushalt der Ikone gebührt, vor der sich der Gast bekreuzigt.« (14) –, so steht das Pixel als distinkte Einheit mit beliebig veränderbaren Farb- und Helligkeitswerten für die Manipulierbarkeit des Bildes – und damit einem wichtigen Teil der Wirklichkeit – in einer von Massenmedien geprägten Gesellschaft.
Digitale Bilder bestehen aus einem Pixelraster. Je feiner, desto mehr Details lassen sich darstellen, und umso schwieriger ist es für das Auge, die Rasterstruktur zu erkennen. Genau darin besteht natürlich die grundlegende Idee: das Raster darf nicht zu erkennen sein, es muss die Auflösungsfähigkeit des Auges unterwandern und distinkte Einheiten als analoge Übergänge vorführen. Das Pixel soll hinter dem Motiv verschwinden (außer im Fall gewollter Pixelästhetik). Dieses Verfahren ist freilich keine Neuerung elektronischer Bildproduktion. Auch bei klassischen Druckverfahren kennt man Raster und Auflösung, werden Bilder aus wenigen Primärfarben und winzigen Farbpunkten (Rasterpunkten) aufgebaut, deren Vorhandensein und Struktur dem Betrachter verborgen bleiben soll. Technische Reproduktionsverfahren nutzen das Konzept von Zeigen und Verbergen auf ihre eigene Weise.
Akzeptiert man die Interpretation der Rechtecke als Pixel (bzw. als auf Pixeln basierend, denn es ist klar, dass es sich nicht um ein einzelnes Pixel handeln kann), werden in Michal Martychowiecs fotografische Arbeiten drei Bildtechniken vorgeführt: Malerei, Fotografie und digitales Bild. Das originale Gemälde wird fotografisch reproduziert, wobei seine Materialität und Struktur transformiert wird. Denn in der Fotografie gibt es keine mit der Malerei vergleichbaren Farbsubstanzen, zudem besteht sie bereits aus Bildpunkten, dem Korn, das allerdings keine regelmäßige Struktur besitzt. Eingelassen in das fotografische Bild ist das Zeichen einer dritten Bildtechnik, das Pixel. Die analoge Fotografie befindet sich, ihrer historischen Position entsprechend, zwischen Malerei und digitalem Bild.
Der digitale Fleck hebt die traditionellen Bildtechniken auf, bringt Gemälde wie Fotografie zum Verschwinden und zeigt den unbenutzten Bildträger seiner Vorläufer. Was hier visuell leer erscheint, ist technisch gesättigt. Denn im digitalen Bild kehrt sich das Verhältnis von Schwarz und Weiß um. Weil die Farben am Monitor durch selbstleuchtende Körper reproduziert werden, ist das leere, das lichtlose Bild schwarz, das volle ist weiß. Bei maximalem Anteil addieren sich die Farben Rot, Grün und Blau zu Weiß. Technisch gesättigt ist es visuell leer, was umgekehrt der technischen Leere in Malerei und Fotografie entspricht.
Es ist Zeit, noch einmal auf die Bildmotive zurückzukommen. In Vanito Vanitas II positioniert Michal Martychowiec die Rechtecke mal direkt über bedeutsame Bilddetails, mal decken sie fast das gesamte Bild ab, oder sitzen nur wie zufällig neben den Bild bestimmenden Objekten (Abb. 6 & 7). Alle Varianten dominieren als Störfaktor das Bild.
In der auf Jan Davidszoon de Heems Stillleben mit Früchten und Blumen (1650) basierenden Arbeit fällt der Einbruch des Fremdkörpers noch am wenigsten ins Gewicht. Im Zentrum der Komposition sitzend, formiert er ein leere Mitte, die man leichter akzeptiert als den blanken Streifen auf der Wand hinter dem Römer in der Verfremdung von Pieter Claesz’ Stillleben mit Römer und Silberschale (1635). Das mag daran liegen, dass die ausgeglichene Mittelposition der originalen Bildkomposition entspricht und das halbleere Glas an der Stelle vollständig verdeckt wird – man vermisst nichts.
Demgegenüber unterhält der blanke Balken in Pieter Claesz’ Stillleben zwar immer noch eine spannungsvolle Beziehung zu dem Römer, mit dem er ungefähr die selbe Flächenausdehnung teilt. Darüber hinaus stört seine Strukturlosigkeit die atmosphärische Leere des Originals aber empfindlich und ist eigentlich inakzeptabel.
Ein vollkommen sinnloser Akt scheint schließlich in dem massiven Doppelblock über dem Gemälde von Philippe de Champaigne (Abb. 6) vorzuliegen. Weil unsere Wahrnehmung einfache Formen bevorzugt, erkennen wir zwei Rechtecke, statt einer polygonalen Form, und können diesen zwei Bilddetails des Originals zuweisen. Aber gewiss ist das nicht. Übrig geblieben ist nur die Sanduhr am rechten Bildrand, deren verrinnende Substanz sich irgendwie gegen das substanzlose, gewaltige Loch daneben abzukämpfen scheint. Geradezu tröstlich wirkt das Vergänglichkeitssymbol.
Vanitas: eine sinnliche Erzählung
Damit sind wir zum Kern von Martychowiecs Arbeit vorgedrungen: Die weißen Flecken, seien sie Silhouetten oder Rechtecke, stören die Vanitas-Allegorie von Vergänglichkeit und Eitelkeit des irdischen Daseins, weil sie nicht vom Verschwinden erzählen. Glanz und Fülle bestimmen die Vanitas-Motive; im reichhaltigen Aufgebot der Lebensmotive überstimmen sich die Todeszeichen. In prachtvollen Details entfaltet sich das Panorama eines dem Tode verfallenen Lebens. Mitunter widersprüchliche Motive werden von den allegorischen Fäden auf einen Fluchtpunkt zusammengezogen, scheinbar zusammenhanglose Ensembles demonstrieren in Wahrheit den vereinheitlichenden Blick eines symphonischen Ganzen: Alles ist eitel, vergeblich. Die Zeugnisse menschlichen Schaffens- und Wissensdrangs, kostbare und luxuriöse Dinge, dazu Pflanzen und Blumen in voller Pracht, allerlei Getier, heimische und exotische Wesen von betörender Schönheit, aber kurzer Lebensdauer usw. zeigen die Welt in ihrem Ausgesetztsein an die Ewigkeit. Eine große Erzählung, die nur davon spricht.
Und nicht zuletzt ist das Bild selbst Beweis der Illusion, des schönen Scheins, wenn es behauptet, was es nicht ist und kann: es ist nicht lebendig, es bewegt sich nicht, klingt nicht, riecht nicht, schmeckt nicht; die dargestellten Kerzen leuchten nicht, die Bücher reden nicht; kurzum es ist eine Täuschung, es gehört selbst in die Reihe der dargestellten Dinge.
Wenn Martychowiec die allegorischen Motive durchstreicht, verneint er damit nicht die Nichtigkeit des Daseins, er verweist vielmehr auf den erlittenen Sinnverlust. Nur »wo Hinfälligkeit und Ewigkeit direkt aufeinanderstoßen« (15) kann die Allegorie ihren Sinn entfalten. Ohne dieses Gegenüber verfehlen Prunk, sinnliche Opulenz und Androhung des Todes ihre Wirkung. In einer Welt, die von allem zuviel besitzt, vom Prunk wie vom Schrecken, nur eben keinen Gott mehr, kann daraus keine mahnende Botschaft zur Umkehr abgeleitet werden. Die Symbole haben ihren Sinn verloren weil die Ewigkeit keinen Namen mehr hat. An den weißen Flächen ist keinerlei Flüchtigkeit, keine Dynamik des Verschwindens auszumachen. Was Martychowiec zum Verschwinden bringt, ist die Dynamik des Verschwindens, indem er es auslöscht wie mit einem Power-Schalter – ON/OFF. Sein Eingriff zerstört mit der Allegorie das Transitorische und setzt dagegen die Diskontinuität einer weißen Plötzlichkeit, Signatur eines leeren Abgrunds. Das ist der Schrecken, den der Künstler in einem banalen weißen Fleck gegen die Allegorie aufbietet, deren permanente Todesandrohung jetzt geradezu tröstlich erscheint.
Der Barock unterhielt offenbar eine sehr intime Beziehung zur Vergänglichkeit und war in der Lage, dies als höchst sinnliches Erlebnis vorzuführen, das den Betrachter unmittelbar leiblich affiziert. Aus der Welt des ewig Neuen ist der Anblick des Verfalls getilgt. Wir verlegen nicht nur unsere Alten und Kranken an Orte, wo sie der Sichtbarkeit entzogen sind, überhaupt scheint alles leiblich-Sinnliche keinen Platz mehr zu haben.
In den weißen Flächen, den gesichtslosen Masken, lesen wir: ersatzlos gestrichen.
Der Artikel erschien anlässlich der Ausstellungseröffnung Vanito Vanitas von Michal Martychowiec in der Stiftung Genshagen am 29. November 2013. Webseite von Michal Martychowiec Webseite der Stiftung Genshagen(1) Gottfried Boehm, »Die Bilderfrage«, in ders. (Hg.): Was ist ein Bild?, München: Fink 1994, S. 325 – 343, hier S. 336. —zurück
(2) Etwa ›ich vereitle die Eitelkeit‹, oder ›ich nichte die Nichtigkeit‹. Die Verbform ›vanito‹ ist eine Erfindung, im Lateinischen existiert ›vanitas‹ nur als Substantiv. —zurück
(3) Rudolf Arnheim, Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges, Berlin, New York: de Gruyter, 2000 [1954], S. 14. Hervorh. im Orig. —zurück
(4) Zit. in: Hans Belting, Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München: Beck 2013, S. 86. —zurück
(5) Ebd. —zurück
(6) Ebd. —zurück
(7) Friedrich Weltzien, Fleck – Das Bild der Selbsttätigkeit. Justinus Kerner und die Klecksografie als experimentelle Bildpraxis zwischen Ästhetik und Naturwissenschaft, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011, S. 69. —zurück
(8) Zit. in ebd., S. 82. —zurück
(9) Belting: 2013, S. 13. —zurück
(10) Ebd., S. 63. —zurück
(11) Ebd., S. 26.—zurück
(12) Ebd., S. 27, Hervorh. im Orig. —zurück
(13) Arnheim: 2000, S. 14. —zurück
(14) Hans-Peter Riese, Kasimir Malewitsch, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002, S. 59. —zurück
(15) Mario Praz,Der Garten der Sinne. Ansichten des Manierismus und des Barock, Frankfurt am Main: Fischer 1988, S. 254.—zurück