Das Fieber einer grauenhaften Inspiration hatte beide erfasst. Dekadente Farbigkeit kennzeichnet das Werk des einen, vom Schrecken gezeichnete Linien das des anderen. Für einige Jahre verband sie eine intensive Freundschaft gegen die entfesselten Dämonen der Moderne. »Doleo super te frater mi« – Mir ist wehe um dich, mein Bruder, klagt der im 2. Buch Samuel trauernde David um den gefallenen Helden Jonathan. Lyonel Feiningers und Alfred Kubins Jonathan, das war die europäische Zivilisation, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts am Rande des Untergangs stand. Den Dialog der scheinbar so ungleichen Freunde zeigt die Wiener Albertina noch bis zum 10. Januar 2016.
Das von dem Feininger-Spezialisten Dr. Ulrich Luckhardt (Kurator der ersten Ausstellungsstation in Ingelheim) und Dr. Eva Michel (Albertina) entwickelte Ausstellungskonzept führt den Betrachter anhand von sechs Themen durch Freundschaft und Werk der beiden Künstler, wobei der kultur- und kunsthistorische Kontext stets ineinandergreifend dargestellt wird. Die Kammersäle der Albertina, das muss man dazu sagen, setzen einer kuratorischen Kreativität enge Grenzen. Die strenge Architektur der sechs Räume in überzeugende Übereinstimmung mit den auszustellenden Werken zu bringen, ist nicht immer einfach. Und wenn eine Verbindung der Arbeiten zwar im Thema, aber nicht in der Motivation zu erkennen ist, ist das Ausstellungserlebnis schnell getrübt – dies ist hier jedoch nicht der Fall. Zwar lassen sich nicht alle der gezeigten Werken den Themenfeldern eindeutig zuweisen: so greift beispielsweise Kubins Am Rande der Welt gewiss über die Kategorie Die Stadt hinaus in eine eher religiöse Sphäre, welche allerdings in der Ausstellung fehlt. Doch gerade die Vermeidung plakativer Themenkreise, in denen klischeehafte Vorstellungen vom sensiblen Künstler-Visionär am Rande des Wahnsinns bedient werden, trägt wesentlich zur Qualität der Ausstellung bei.
Angeborener Technoskeptizismus
Wahrscheinlich ist Die Stadt auch die problematischste Kategorie, denn sowohl bei Kubin als auch Feininger taucht das Motiv eher als Kulisse auf. Es geht ihnen nicht um eine programmatische Reflexion moderner Urbanität im Zeichen einer das gesellschaftliche Leben neu ordnenden Beschleunigung, zumindest wird dies aus den hier gezeigten Arbeiten nicht ersichtlich (ein Blick in den Katalog zeigt jedoch, dass beide Künstler sich lange und intensiv mit dem Stadtthema auseinandergesetzt haben). Interessanter jedenfalls ist die Kategorie Die Stadt am Ende der Welt – benannt nach einer Radierung Feiningers, die dieser nach der Lektüre von Kubins Roman Die andere Seite anfertigte –, wo gut zu erkennen ist, wie die Faszination beider Künstler für die Décadence mit ihren apokalyptischen Visionen kollidiert. In der Kategorie Eisenbahn tritt ein scheinbar angeborener Technoskeptizismus sowohl bei Feininger (Die alte Lokomotive, 1906) wie auch Kubin deutlich hervor. Kubins Dampfmaschine im Winter (1925) zeigt eine alte, aus dem Gleis gesprungene Lokomotive, die, von Schlittschuh laufenden Kindern unbeachtet, in der Winterlandschaft verrottet. Was eben noch Symbol des Fortschritt war, verfällt zu einem merkwürdigen Ensemble eiserner Klumpen.
Die Spannungen zwischen dem weltanschaulichen Erbe der Décadence und den Vorahnungen der expressionistischen Ära sind auch in der Sektion Maritime Idyllen vor dem grossen Krieg deutlich zu spüren. Zeichen eines tiefen Skeptizismus trägt etwa Feiningers Rotes Meer und Blaue Barke (1912), wo das dürre Gerippe eines Segelschiffs hinter der sich gebirgsartig auftürmenden Flut roten Wassers verloren am Horizont taumelt. Und selbst in der Kategorie Musik und Karneval will Freude nicht so richtig aufkommen. In Kubins Tingeltangel (1915–1920) sehen eine pofelnde Sau und ein halb verhungerter Köter dem wilden Tanz einer karnevalesken Truppe zu. Allegorie auf eine Gesellschaft, die im Taumel nicht bemerkt, dass sie bereits einen Schritt zu weit gegangen ist?
Von Krieg und Dunkelheit
Karikaturen Lyonel Feiningers thematisieren den Krieg (Die Friedens-Pfeifchen, 1902), aber auch die anwachsenden Spannungen zwischen Deutschland und Großbritannien (Englischer Frieden, 1902) in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg. England sah durch den wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands die »balance of power« bedroht und unterstellte dem Konkurrenten, nach Weltherrschaft zu streben. Vorahnungen des Kriegs tauchen auch bei Kubin immer wieder auf (Der Krieg, 1907), nur ist ihre Darstellung bereits keine Persiflage mehr und ihre groteske Form kaum noch zum Lachen. Feininger transferierte die Dämonen seiner Umwelt in »reale« Situationen und Karikaturen (wie im Abschnitt Lyonel Feininger als Karikaturist zu sehen ist), Kubin entwickelte hingegen eine intimere Sprache, seine Dämonen (Abschnitt Frühe Dämonen) sind beklemmende Visionen und Träume voller Zwerge und menschlicher Missgestalten. Bei Kubin ist die im Menschen tief verwurzelte Furcht vor den Gefahren der Dunkelheit und Kälte immer präsent; Die Nacht zieht an, der Tag entflieht (1902/03) ist ein gutes Beispiel dafür. Expressionistische Inspiration und Vorstufen des Surrealismus erscheinen bei beiden Künstlern, so etwa in Kubins Jede Nacht besucht uns ein Traum (1900–1903) oder Feiningers Die grüne Brücke (1909).
Zwei Biographien zwischen Avantgarde und angewandter Kunst
Lyonel Feiningers (1871–1956) Karriere begann 1894 als Illustrator und Zeichner für eine Reihe deutscher, französischer und amerikanischer Magazine, darunter Harper’s Round Table, Das Narrenschiff, Berliner Tageblatt, Ulk, Le Témoin, und er ist bis heute vor allem als Grafiker und Maler bekannt. Für den Chicago Tribune entwickelte er die berühmten Comics The Kin-der-Kids und Wee Willie Winkie’s World, in denen die Anfänge seiner spezifischen Auffassung der menschlichen Gestalt zu finden sind. Er arbeitete mit der Berliner Sezession, den expressionistischen Gruppen Die Brücke, Novembergruppe, Gruppe 1919, Der Blaue Reiter und auch mit der Bauhaus-Gruppe Die Blaue Vier zusammen. Walter Gropius berief ihn mit Gründung des Bauhauses als Leiter der Druckwerkstatt und wählte für den Titel des Bauhaus-Manifestes Feiningers kubistischen Holzschnitt einer Kathedrale. Das Motiv unterstreicht als Verweis auf die mittelalterlichen Dombauhütten den Gesamtkunstwerk-Gedanken des Bauhauses. Lyonel Feininger trat, was weniger bekannt ist, auch als Bühnenbildner in Erscheinung. Eine Sammlung von ihm angefertigter, hölzerner Spielzeughäuser, in denen sein Interesse an plastischer Gestaltung zum Ausdruck kommt, wurde in der Hamburger Kunsthalle 1998 ausgestellt. Sein Sohn Theodore Lux Feininger (1910–2011) war, nebenbei bemerkt, Autor jener Fotografie, welche Oskar Schlemmer als Vorlage für sein berühmtes Gemälde Bauhaustreppe (1932) diente.
Der aus dem tschechischen Leitmeritz stammende Alfred Kubin (1877–1959) begann bereits als junger Künstler damit, Zeichnungen dämonischer und phantastischer Szenarien anzufertigen. Wie aus dem Ausstellungskatalogs zu erfahren ist, verehrte er Rops, Redon, Munch und Goya, die die Entwicklung seiner morbiden und grotesken Motive stark beeinflussten und aus seinen Bildern alle kühlen und akademischen Züge vertrieben. 1909 publizierte Kubin seinen Roman Die andere Seite, für den er außerdem einundfünzig Illustrationen anfertigte, und der heute zu den Klassikern der phantastischen Literatur zählt. Kubin näherte sich auf Basis des Symbolismus einer visuellen Form der Psychoanalyse an. Seine bildkünstlerische Sprache ist dabei eher traditionell geblieben. Als von ihm in die Radierkunst eingebrachte Neuerung, wären eigentlich nur die eigenwilligen Figuren zu nennen. Man kann von ihm, der vielen als wichtigster deutschsprachiger Illustrator des 20. Jahrhunderts gilt, jedoch lernen, dass ein literarischer Inhalt die künstlerische Qualität einer Arbeit nicht herabsetzen muss.
Die Geschichte der Freundschaft von Feininger und Kubin, zweier Männer, in deren lebhafter Imagination sich die Personifikationen der Gräuel, der Einsamkeit und des Krieges drängen, hat dem Betrachter des 21. Jahrhunderts vielleicht mehr zu sagen, als es zunächst scheinen mag. Denn die Ahnung eines furchtbaren Kriegs, der hinter unseren »Grenzen« bereits begonnen hat, ist keine Einbildung. Wenn es uns an Ausdruck für unsere Befürchtungen mangelt, sind Feiningers und Kubins apokalyptische Visionen geeignet, uns erneut bewusst zu machen, dass die imaginäre »Chinesische Mauer« uns vor niemand schützt, statt dessen aber eine Entwicklung hemmt, die uns helfen könnte, jene Dämonen und Feinde zu beherrschen, die in uns wohnen.
Zur Ausstellung erscheint ein ausführlicher Katalog:
Ulrich Luckhardt (Hg.), Lyonel Feininger. Alfred Kubin. Eine Künstlerfreundschaft, mit Texten von Andreas Geyer, Eva Michel, Lisa Gerhardt und der von Roland März kommentierten Korrespondenz zwischen Feininger und Kubin.Erschienen im Verlag Hatje Cantz, Preis: 35,- € Albertina
Albertinaplatz 1, A-1010 Wien
Öffnungszeiten: täglich 10 bis 18 Uhr, Mittwoch 10 bis 21 Uhr
http://www.albertina.at