Joseph Cornell: Fernweh

Von 20. Oktober 2015 bis 10. Januar 2016 zeigt das Kunsthistorische Museum die Ausstellung Joseph Cornell: Fernweh und zeichnet darin umfassend das ungewöhnliche Leben und Schaffen dieses Künstlers nach. Die richtungweisende Ausstellung präsentiert mehr als 80 seiner Werke: von Collagen, Filmen und frühen, in den 1930er Jahren geschaffenen Arbeiten bis hin zu seinen bekanntesten Schöpfungen, den kunstvoll konstruierten Kästchen (boxes). Damit findet in Österreich erstmals eine Gesamtschau von Cornells Werk statt, zugleich die erste große Personale in Europa seit mehr als 30 Jahren. Die Ausstellung entstand in Zusammenarbeit mit der Royal Academy in London.

In europäischen Museen sind nur sehr wenige Werke Cornells ständig zugänglich. Die Ausstellung gibt nun Gelegenheit, selten verliehene Meisterwerke aus bedeutenden öffentlichen und privaten Sammlungen zu sehen. Gezeigt werden wichtige Werke aus allen großen Serien, die der Künstler im Laufe seiner Karriere schuf. Manche Werke reisen zum ersten Mal nach Europa; andere werden erstmals nach vielen Jahren wieder öffentlich gezeigt. Etliche der wichtigsten Leihgaben befinden oder befanden sich bemerkenswerterweise in den Privatsammlungen von Künstlern, unter anderem in denjenigen von Jasper Johns, Marcel Duchamp und Dorothea Tanning.

Die im Kunsthistorischen Museum präsentierten Werke Joseph Cornells treten in faszinierende Dialoge mit den verschiedensten historischen Objekten, deren Bogen sich von Gemälden der Renaissance über Gegenstände des Münzkabinetts bis hin zu altägyptischen Grabbeigaben spannt. Am intensivsten ist der Dialog mit der Kunstkammer des Museums und deren Beständen an mirabilia, naturalia, artificialia und scientifica.

Cornell war nicht nur Künstler, sondern auch einer der größten Sammler des 20. Jahrhunderts. Zur Herstellung seiner Werke griff er auf die zahllosen kleinen Dinge zurück, auf die er in Antiquariaten, auf Flohmärkten und in Billigläden stieß oder die er an den Stränden von Long Island angeschwemmt fand: Murmeln, Muscheln, Vogelnester, Vorhangringe, Teile von Uhren, vergriffene Bücher und jede Menge Ephemera aus Papier wie Briefmarken, Landkarten, Stadtpläne, Drucke, Reiseführer, Schiff- und Eisenbahnfahrpläne. Andenken, Relikt und Muster in einem, scheinen Cornells Werke imaginäre Entdeckungsreisen um die Welt zu dokumentieren und dabei mit der Sprache von Museen und den Klassifikationssystemen zu spielen, auf denen Naturgeschichte gründet.

Über vierzig Jahre lang hat Cornell sein eigenes privates Kuriositätenkabinett geschaffen, das uns nicht weniger erstaunlich erscheint als die Kunstkammern der europäischen Kaiser, Könige und Adeligen der Renaissance. Wie sie erfreute sich Cornell an kleinen Dingen – und an den Geschichten, die sie erzählen. Wie sie versuchte er die Welt in einen Kasten zu bannen, um zu verstehen, wie sie funktioniert und welcher Platz dem Menschen darin zukommt. Und wie sie verschenkte er besondere Gegenstände an besondere Menschen. Der einzige Unterschied lag im materiellen Wert dieser Geschenke. Cornell ging es nicht um teure oder extravagante Dinge: Seine Welt war eine Welt schlichter Schätze, aus denen er die wunder- und kostbarsten Schöpfungen zu machen verstand. Er war, wie es einmal ein Freund formulierte, »der Benvenuto Cellini des Strandgutes«.

Aus diesem Grund wird das letzte Kapitel der Ausstellung Joseph Cornell: Fernweh in der Kunstkammer selbst aufgeschlagen, wo vorübergehend eine kleine Gruppe von Objekten Cornells gezeigt wird. Um die Affinität zu unterstreichen und weiter zu ergründen, können Besucher einem speziellen Parcours durch die Kunstkammer folgen, der sie diese mit den Augen Cornells betrachten lässt. In jedem der Säle ist ein historisches Objekt aus der Sammlung des Museums zu sehen, das in Cornells Arbeit einen besonderen Widerhall findet. Durch diese Gegenstände erfahren wir mehr über die Interessen Cornells und das Ausmaß, in dem sich Künstler und Kunsthandwerker jenen Gegenständen über viele Jahrhunderte gewidmet haben. Cornell hat die Vereinigten Staaten kein einziges Mal verlassen und daher auch Wien keinen Besuch abgestattet: Hätte er das getan, wären das die Gegenstände gewesen, die ihm, so meinen wir, gefallen hätten.

Joseph Cornell (geb. 1903 in New York, gest. 1972 ebenda) zog nie aus dem Familienhaus weg, das er gemeinsam mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder in Flushing, New York, bewohnte. Die Straße, an der das Haus stand, hatte den höchst passenden Namen Utopia Parkway. Er erhielt keine reguläre künstlerische Ausbildung, konnte weder zeichnen noch malen noch bildhauern, sondern arbeitete vielmehr lange Zeit als von Haus zu Haus ziehender Vertreter einer Textilfirma in Lower Manhattan. Seine frühesten Arbeiten schuf er in den 1930er Jahren am Küchentisch der Familie; als der Tisch zu klein wurde, zog er in den Keller hinunter. Weitab vom Scheinwerferlicht der New Yorker Kunstwelt entstand ein OEuvre, das zu den bemerkenswertesten des 20. Jahrhunderts zählt.

Cornell kam nie über die Grenzen seines Heimatlandes hinaus, und abgesehen von seiner Schulzeit und manchen Urlauben in seiner Kindheit war er selten weit von zuhause weg. Umso erstaunlicher war seine Kenntnis der Welt, insbesondere Europas. Die Ausstellung und der begleitende Katalog behandeln eingehend Cornells Verhältnis zu Kontinentaleuropa: seine Vertrautheit mit dessen Kultur, Geschichte und Geographie und seine Beziehung zu vielen von dessen maßgeblichen Persönlichkeiten, von Schriftstellern und Komponisten bis hin zu Balletttänzerinnen und Sternguckern. Das Wort »Fernweh« im Titel der Ausstellung bezieht sich auf seine rastlose Phantasie und sein Talent, metaphorisch durch Raum und Zeit zu reisen. Auch sein besonderes Interesse für Österreich, für Wien und bestimmte Werke in den Sammlungen des Kunsthistorischen Museums wird in der Ausstellung thematisiert.

Kunsthistorisches Museum Wien
Maria-Theresien-Platz, 1010 Wien
 
Öffnungszeiten
Juni bis August: täglich 10 – 18 Uhr, Do bis 21 Uhr
September bis Mai: Di – So, 10 – 18 Uhr, Do, 10 – 21 Uhr
http://www.khm.at