Ich bin eine Pflanze.
Naturprozesse in der Kunst

Im Vordergrund unserer Beziehung zur Natur stehen heute nicht mehr Ausbeutung, Macht und Zähmung, sondern die Einsicht, dass die über Jahrhunderte prägende Nützlichkeitsperspektive in Richtung auf ein partnerschaftliches Verhältnis zur Tier- und Pflanzenwelt weiterentwickelt werden muss. Künstler sind und waren Vorreiter für ein solches empathisches Naturverhältnis. Parallel zum Prozess der Modernisierung haben Künstlerinnen und Künstler als Reaktion auf eine durch Verstädterung und Industrialisierung zunehmend entzauberte Umwelt die Natur verstärkt in den Blick genommen.

Das von Nicole Fritz kuratierte Ausstellungsprojekt Ich bin eine Pflanze. Naturprozesse in der Kunst belegt diese These, indem es die individuellen »Naturprozesse« der ausgewählten Künstler vom Expressionismus bis in die Gegenwart chronologisch vorstellt. Gezeigt wird, wie die Natur um 1900 nicht nur im Film (Das Blumenwunder 1921-25) oder in der Fotografie in den Fokus rückt. Paula Modersohn Becker, Emil Nolde und andere Künstler begannen in der freien Natur zu malen und sich körperlich und meditativ in sie einzufühlen. Die Blume und der Baum wird von Künstlern zur idealen Projektionsfläche und als vegetabile Stellvertreter genutzt. Ein Highlight der Ausstellung ist das Stillleben mit Sonnenblumen von Paul Gauguin, der an den bereits verstorbenen van Gogh nicht in Form eines Porträts gedenkt sondern stellvertretend für diesen, Sonnenblumen auf einen Sessel drapierte.

Diesen emotional-expressiven Annäherungen an die Natur im Expressionismus steht ein introspektiver Annäherungsprozess im Surrealismus gegenüber. Innerseelische Prozesse werden in Naturmetaphern visualisiert und synthetische Entsprechungen anthropomorpher und vegetabiler Bereiche erscheinen bei Max Ernst oder Salvador Dalí in traumähnlichen Szenerien visualisiert.

In der Nachkriegszeit gewann die Natur dann als Quelle der Hoffnung für viele Künstler erneut eine große Bedeutung. In der Ausstellung vertreten sind innere Landschaften von Richard Oelze und Joseph Beuys die den psychisch Entwurzelten eine neue, wenn auch nur imaginäre Heimat boten.

In den 1960er und 1970er Jahren bildete Künstler die Natur nicht mehr nur ab, sondern bringen sich im wahrsten Sinne des Wortes auch körperlich wieder mit dieser in Kontakt (herman de vries). Energetische Prozesse und Bewusstseinserfahrungen mit der realen Natur werden zur individuellen (Richard Long) oder zur kollektiven Identitätsfindung genutzt, wie bei Ana Mendieta und Birgit Jürgenssen.

In der Gegenwart werden die Stilformen und Techniken der Avantgarden in hybrider Art und Weise fortgeführt. Wie ihre Vorgänger lassen sich auch heute Künstler wie beispielsweise Bernd Koberling oder Matthias Mansen von der direkten Naturwahrnehmung inspirieren, während andererseits Max Weiler oder Christiane Löhr ihre Abstraktionen in der Tradition der Surrealisten aus ihrem Inneren im Atelier nachspüren.

Vor allem die körperbezogenen, alle Sinne einbeziehenden Ansätze der 1970er Jahre erhalten heute, angesichts einer zunehmenden Verflachung der Alltagswahrnehmung in die digitale Zweidimensionalität, eine neue Aktualität. Ob aus der postmodernen ironischen Distanz (Nezaket Ekici, Stephan Balken-hol) oder als empathische Einfühlung mit allen Sinnen (Anne Carnein) verankern junge Künstlerinnen in ihrem Bestreben, Körper und Natur wieder in Verbindung zu bringen, wie die Künstler der 1970er Jahre ihre Naturprozesse zunächst in ihrer eigenen Körperlichkeit. Nicht zuletzt zeigt die Ausstellung, dass in der Kunst auch alte überlieferte Mikro- und Makrokosmos-Vorstellungen wieder produktiv gemacht werden, um einen bewussteren Umgang mit der Natur zu finden.

Die breit gefächerte Schau zeigt 80 hochkarätige Werke von über 30 Künstlerinnen und Künstlern: Paul Gauguin, Paula Modersohn-Becker, Otto Mueller, Emil Nolde, Max Ernst, Salvador Dalí, Richard Oelze, Joseph Beuys, herman de vries, Birgit Jürgenssen, Max Weiler, Bernd Koberling, Christiane Löhr, Nezaket Ekici und anderen.

Kunstmuseum Ravensburg
Burgstraße 9, 88212 Ravensburg
www.kunstmuseum-ravensburg.de
kunstmuseum@ravensburg.de
 
Öffnungszeiten
Di – So 11-18 Uhr, Do 11 – 19 Uhr
montags geschlossen, außer feiertags