Das in Berlin produzierte englischsprachige Magazin HOLO. Emerging trajectories in art, science, and technology vermittelt Einblicke in Kunst- und Designprojekte, die mit aktuellsten Technologien und wissenschaftlichen Methoden neue Formen des Ausdrucks und Wege der Erkenntnis suchen. In seiner zweiten Ausgabe begibt sich HOLO auf die Suche nach dem Zufall – dem wahren Zufall.
Idee, Algorithmus, Maschine
Computer-Künstler arbeiten mit Algorithmen, die sie zumeist selbst entwickeln, sie sind, im Unterschied etwa zu den meisten Grafikern, die mit handelsüblicher Software Designs für die Massenkommunikation entwerfen, selbst Programmierer. Benötigt werden neben dem Rechner, an dem der Algorithmus entwickelt und verarbeitet wird, noch eine oder mehrere Maschinen, die den Code als sinnlich erfahrbares Phänomen ausgeben, beispielsweise ein Monitor, Drucker oder 3D-Drucker. Idee, Algorithmus (Code) und Maschine sind die Bedingungen der Computerkunst oder vielleicht besser: der algorithmischen Kunst.
Das Magazin aus Papier dazu nennt sich HOLO (Abb. 1). Seit Ende November 2016 gibt es die zweite Ausgabe, die ich mir näher angeschaut habe. Die nachstehende Rezension ist das Ergebnis, für deren Länge ich mich vorneweg entschuldige. Zur Begründung sei angemerkt, dass auf den mehr als zweihundert Seiten von HOLO 2, anders als in anderen Magazinen, die damit auch schon mal gut zwei Drittel ihres Umfangs füllen, nicht eine Anzeige zu finden ist. Gut, acht Partnerinstitutionen und -unternehmen sind hinter dem Inhaltsverzeichnis aufgeführt, und jede hat im Heft noch mal eine ganze Seite zur Verfügung bekommen. Das war’s dann aber auch.
Eigentlich ist HOLO 2 eine Anthologie mit sorgfältig recherchierten Beiträgen. Dem versucht dieser Artikel, der eine Mischung aus Essay und Rezension ist, gerecht zu werden. Wer dafür keine Geduld aufbringen mag, kann direkt ans Ende springen.
In sechs Kapiteln führt HOLO 2 unter dem etwas sperrigen Untertitel »IF/THEN—Chance, (Un)certainty, and the Search for True Randomness« durch aktuelle Entwicklungen der algorithmischen Kunst und ihren Kontext. Es werden Künstler und Projekte vorgestellt (Encounters, Kap. I & III), ästhetische, wissenschaftliche und technologische Fragen zum Thema Zufall gestellt – wie man ihn erzeugt und wie man damit arbeitet (Perspectives, Kap. II), über Artist in Residence-Programme in internationalen Forschungseinrichtungen wie dem CERN berichtet (Grid, Kap. IV), künstlerische Projekte mit der VR-Brille Oculus Rift präsentiert (Frames, Kap. V) und in einer HOLO-Zeitleiste genannten Übersicht des Jahres 2015 Ereignisse aus dem thematischen Umfeld aufgelistet (Stream, Kap. VI). Außerdem liegt dem Magazin eine kleine Maschine aus Karton bei namens Cryptoclock—A Paper Random Number Generator, mit der sich beispielsweise sichere Passwörter oder aussichtsreiche Lottozahlen generieren lassen.
Intro
Zu den Folgeerscheinungen der konstruktivistischen Avantgarde der Moderne gehört die Entstehung einer prozessorientierten Kunst in den 1960er Jahren, bei der erstmals Computer für die automatisierte Produktion von Bildern verwendet wurden. Von heute aus gesehen waren die ersten Ausstellungen mit computergenerierten Grafiken ein Paukenschlag, doch ahnte »die Revolution, die hier sehr still, freundlich und scheu an den Wänden traditioneller Ausstellungsräume begann sich auszubreiten, selbst noch kaum […], von welcher Wucht die Kraft war, die ihr innewohnte«1)Frieder Nake, »Vorwort«, in: Christoph Klütsch, Computergrafik. Ästhetische Experimente zwischen zwei Kulturen. Die Anfänge der Computerkunst in den 1960er Jahren, Wien: Springer 2007, S. 10., schreibt Frieder Nake, einer der Pioniere dieser neuen Kunst, in seinem Vorwort zu Christoph Klütschs Computergrafik. Mit Beginn des 21. Jahrhunderts hat diese sich in ihren Anfängen noch so zaghaft äußernde Kunst zu sich selbst gefunden. Heute stehen ausgereifte digitale Werkzeuge zur allgemeinen Verfügung und entsprechende Kommunikationskanäle begünstigen den künstlerischen Austausch in internationalen Netzwerken. Selbst die Kunstgeschichte hat Notiz von der Computergrafik genommen und niemand macht sich noch über Zeichnungen lustig, die nicht aus der Hand eines Künstlers fließen. »Die algorithmische Revolution«2)Die algorithmische Revolution, ZKM 31.10.2004–06.01.2008, http://www01.zkm.de/algorithmische-revolution/, so der Titel einer Ausstellung im ZKM Karlsruhe von 2004–2008, hat sich nicht nur unseres Alltags bemächtigt, sie ist auch endlich im Kunstbetrieb angekommen. Man wird aber hinzufügen müssen, dass trotz ZKM, Ars Electronica (Linz), Transmediale (Berlin), Kinetica (London), AND (Abandon Normal Devices, England), EYEO (Minneapolis) und vielen anderen Ausstellungshäusern, Festivals und Initiativen in der ganzen Welt die naturwissenschaftlich-technologisch orientierte Computer-Kunst nach wie vor ein Nischendasein führt. Erst recht im Vergleich mit der fast vollständigen Durchdringung unserer Lebenswelt mit Algorithmen, die so etwas wie das Unbewusste der digitalen Gesellschaft bilden: Ihre Effekte zeigen sich überall, während der Mechanismus im Verborgenen liegt und kaum einer weiß, wie er überhaupt funktioniert. Statt dessen wird kräftig an neuen Mythen gebastelt, deren klangvolle Namen wie ›Cloud‹ oder ›Big Data‹ bis hinab in die Kinderzimmer diffundieren.
Faszination Unordnung
Bei den in Encounters vorgestellten Künstlern handelt es sich im ersten Teil um Ryoichi Kurokawa, Vera Molnar, Jürg Lehni, Tale of Tales sowie Rafael Lozano-Hemmer, Katie Paterson und Timo Arnall im zweiten. Dem Thema von HOLO 2 entsprechend, beschäftigen sich viele der portraitierten Künstler mit Aspekten der Unordnung. War die Kunst vergangener Jahrhunderte vor allem dem Ideal des Schönen verpflichtet, dem Begriff höchster Ordnung, so hat sie seit der Moderne die Unordnung geradezu enthusiastisch gefeiert. Selbstverständlich wurden und werden dabei immer wieder neue Ordnungen hervorgebracht, denn es ist schwer, wenn nicht unmöglich und vielleicht auch gar nicht erstrebenswert, ganz ohne sie auszukommen. »Ordnung«, schreibt der Wahrnehmungspsychologe Rudolf Arnheim, »ist die notwendige Vorbedingung für alles, was der Menschengeist verstehen möchte.«3)Rudolf Arnheim, Entropie und Kunst. Ein Versuch über Unordnung und Ordnung, Köln: Dumont 1979, S. 9. Ohne Ordnung keine Erkenntnis. Aber nicht nur das: »Da es ohne Ordnung kein Überleben gibt, [ist] auch dem Menschengeist […] ein allumfassendes Streben nach Ordnung eingeboren«4)Ebd., S. 11, so Arnheim weiter. Deswegen ist der Umgang mit Unordnung so schwierig und anstrengend und außerhalb der Kunst wohl auch ausschließlich negativ konnotiert.
Gegen die Unordnung der Natur
Der in Berlin lebende japanische Künstler Ryoichi Kurokawa (Abb. 02) – »both a computer graphics wiz and a meticulous sound designer« (37) – entwickelt seine Arbeiten, die von großen Museen auf der ganzen Welt gezeigt werden, zwischen den Eckpfeilern Synästhesie und Dekonstruktion von Natur. »Nature is disorder«, sagt Kurokawa, »I like to use nature to create order and show another side of it. I like to denature.« (39) Hinter der chaotischen Welt der Erscheinungen verbirgt sich eine Ordnung, die der Künstler Kraft seiner Imagination und Intuition aufspürt und ins Werk setzt. Das ist nichts anderes als der klassische Schönheitsbegriff, auch wenn Kurokawa zu ganz anderen Ergebnissen kommt. In dem Werk rheo:5 horizons (2010) etwa, für das er auf der Ars Electronica mit einer Golden Nica ausgezeichnet wurde, durchdringen geometrische Strukturen Filmaufnahmen einer Wattlandschaft mit Vogelgeschrei, die gleichzeitig auf fünf nebeneinander angeordneten Displays zu sehen sind.
›Machine Imaginaire‹
Die Pionierin und Grande Dame der Computerkunst Vera Molnar untersucht seit den späten 1960er Jahren in algorithmisch produzierten, stark reduzierten Grafiken die Gesetze ästhetischer Wahrnehmung. Ihre Hinwendung zum Computer motiviert sich aus dem Wunsch – und dies dürfte wohl einer der wichtigsten Aspekte algorithmischer Kunst überhaupt sein –, die Arbeiten dem Einfluss der eigenen Wahrnehmung, die durch kulturelle Prägung immer vorurteilsbelastet ist, zu entziehen. Daraus folgen fast zwangsläufig Fragen nach möglichen objektiven Gesetzen der ästhetischen Welt, über die das künstlerische Experiment neue Einsichten erbringen soll. Den Impuls, sich als Künstlerin forschend zu betätigen, besaß die heute 93-Jährige schon vor ihren ersten Computer-Arbeiten und entwickelte mit der ›machine imaginaire‹ eine konzeptionelle Methode, Serien von Grafiken auf Basis einfacher, von Hand ausgeführter Algorithmen zu produzieren. Bereits hier zeigt sich ihr Interesse an der Unordnung als Voraussetzung kreativer Arbeit. Nach 1968, dem Jahr ihrer ersten Begegnung mit dem Computer, erlernte Molnar die Programiersprache FORTRAN und trat in einen Dialog mit der Maschine, den sie bis heute fortsetzt.
Beanspruchung von Autorschaft
Der Schweizer Programmierer und Kollaborateur Jürg Lehni geht über die Softwareentwicklung hinaus in den Bereich der Hardware. Größere Bekanntheit erlangte er durch Viktor, »a robotic drawing machine with personality« (65), die zuerst 2008 am Londoner Institute of Contemporary Art (ICA) gezeigt wurde. Schon die Hervorhebung des Persönlichkeitsaspekts lässt erahnen, dass auch in Lehnis Arbeit Unordnung, Störung und Zufall wichtige Leitlinien bilden. Im Bereich der kommerziellen Computergraphik kennt man Lehni zudem als Entwickler einer Erweiterung für Adobe Illustrator namens Scriptographer. So mancher Designer wird sich fragen – heute vielleicht mehr denn je –, wieso Illustrator über nur rudimentäre Tools für prozedurale Gestaltung verfügt, obwohl sich diese Arbeitsweise ja regelrecht aufdrängt. Als langjähriger Anwender halte ich dies für ein schweres Versäumnis seitens des Herstellers. Und Lehni ist nur zuzustimmen, wenn er erklärt: »For me, it was almost a political statement, to make this open source plugin that lives inside Illustrator. It was about reclaiming some authorship over design tools.« (66) Leider sah sich der Programmierer gezwungen, die Entwicklung von Scriptographer 2012 einzustellen: der Aufwand, das Tool mit den ständigen von Adobe in Illustrator vorgenommenen Änderungen kompatibel zu halten, wurde einfach zu groß. Die Seite ist allerdings noch online und das Programm steht noch zum Download bereit.5)https://scriptographer.org/ Außerdem hat Jürg Lehni ein Nachfolgeprojekt unter dem Namen paper.js entwickelt, eine JavaScript-Bibliothek die unter HTML5 läuft, also mit jedem Webbrowser verwendet werden kann.6)http://paperjs.org/
Als alte Dame über einen Friedhof
Kontemplative Computerspiele jenseits des Mainstreams der Egoshooter und Adventure Games entwickelt das im belgischen Ghent lebende Künstlerpaar Auriea Harvey und Michaël Samyn, die unter dem Namen Tale of Tales firmieren. Ein typisches Beispiel ist das vom Musée d’Art Moderne Grand-Duc Jean in Luxembourg in Auftrag gegebene The Endless Forest aus dem Jahr 2005. Hier agieren die Spieler als Hirsche, es gibt keine Feinde und zur Verfügung stehen nur non-verbale Kommunikationsmittel. Noch drastischer, wenn man so will, geht es in The Graveyard (2008) zu, für das Tale of Tales mit dem European Innovative Games Award ausgezeichnet wurden. Der Spieler läuft als alte Dame über einen Friedhof, begleitet von Krähenrufen und dem Knirschen kleiner Steine unter den Schuhen. Solche Ideen werden in der Gamer-Scene nicht immer positiv aufgenommen: »The studio has received a slew of harassing messages about its unusual work […]« (82). Reaktionen, die sie allerdings mit Gelassenheit und einem gewissen Verständnis aufnehmen. Mit ihrer letzten Produktion, Sunset (2015), wollten Tale of Tales dann nach über zehn Jahren endlich mal »a game for people who play games« (82) entwickeln. Leider zahlte sich das nicht aus: trotz guter Kritiken war das Spiel ein kommerzieller Flop und Tale of Tales beschlossen, für zukünftige Projekte dem Massenmarkt wieder den Rücken zu kehren.
Geschichte und Dimensionen des Zufalls
Der über 60 Seiten umfassende Teil Perspectives trägt den Untertitel One theme, multiple angles und ist, mit anderen Worten, eine Mischung aus Essay, Interview, Showcase und Ephemera zum Schwerpunktthema Zufall. Hier findet sich der Haupttitel von HOLO 2 IF/THEN wieder, der Perspectives in zwei Unterkapitel teilt: Das Kapitel if{} – so die der Programmierung entlehnte Schreibweise – besteht aus zehn zumeist längeren Beiträgen. Demgegenüber besteht then{} nur noch aus einer Bilderstrecke mit Arbeiten der im darauffolgenden zweiten Teil von Encounters (2) vorgestellten Künstler. Unter die Artikel gestreut finden sich fünf Einseiter der Rubrik Meme, womit einzelne Bewusstseinsinhalte gemeint sind und nicht etwa das Internetphänomen. Diese werden jeweils mit einer surrealistisch anmutenden Collage der Illustratorin Eva Hillreiner kombiniert, was nur scheinbar einen Bruch darstellt, hatten doch die Surrealisten bereits auf dem Zufall ihre Konzeption von Schönheit gegründet.7)»schön … wie die unvermutete Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch!« Lautréamont, Die Gesänge des Maldoror, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2013 [1869], S. 223. Die Surrealisten eigneten sich diese Formulierung Lautréamonts an.
Einzelne künstlerische Arbeiten, die sich mit atmosphärischen Phänomenen auseinandersetzen, werden im Weather System Showcase vorgestellt. Auf zehn Seiten werden neun Arbeiten gezeigt, darunter Theo Jansens Strandbeest, eine Serie außerordentlich komplex (erscheinender) künstlicher Wesen, konstruiert aus einfachsten Materialien wie Plastikrohren und Baumwolle, die der Holländer seit mehr als fünfundzwanzig Jahren weiterentwickelt. Oder der Tornado Diverter (2011) des Künstler-Duos Bigert & Berström, konstruiert nach einer Idee des russischen Experimentalmeteorologen Vladimir Pudov, mit dem sich nach Pudovs Überzeugung die Richtung eines Tornados beeinflussen lässt. (Abb. 03)
Gibt es den Zufall überhaupt?
Das Leben ist ein gefährdeter Zustand und im Zufall lauern die größten Gefahren. Den Zufall zu beherrschen, der sich unserem Bedürfnis nach Sicherheit entgegenstellt, bewegt die Menschen seit Jahrtausenden. »Ancients threw dice to determine their fortunes, or looked to the heavens to predict the future.«(90) Sicherheit bedeutet Transparenz und Kontrolle, der Zufall aber ist undurchsichtig und unkontrollierbar, er ist bis heute ein Geheimnis geblieben – das macht ihn nicht nur gefährlich, sondern auch faszinierend. Mit dem Zufall eng verbunden ist das Wunderbare, in welchem man in früheren Jahrhunderten Botschaften des Göttlichen erkannte. Sicherheitsvorkehrungen und Vorhersagesysteme sind daher auch nur eine Möglichkeit, auf die Fährnisse des Lebens zu reagieren. Dem gegenüber steht ein sehnsüchtiges Streben, denn der Zufall – oder was man dafür hält – steht im Ruf, das Leben erst interessant zu machen: im Zufall erkennt das Leben sich selbst, im Glück wie im Unglück. Der Künstler und Co-Entwickler der Open Source Software Processing 8)https://processing.org/ Casey Reas berichtet in der Einleitung zum Thema von seinen persönlichen Erfahrungen mit dem Zufall, von dem schwierigen Prozess, ihn als Teil der künstlerischen Arbeit zu akzeptieren – und zu umarmen.
Im Beitrag »A Million Random Digits« geht es dann um die Geschichte der Generierung zufälliger Zahlen, wie sie beispielsweise für E-Mail-Verschlüsselung oder in der Computer-Simulation verwendet werden. Das Hauptproblem besteht in der bereits erwähnten Musterbildung, zu der der Mensch neigt. »When asked to choose a sequence of random digits, we struggle against personal preferencees, cultural imprint and habit.« (90) Die Generierung von Zufallszahlen entwickelte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem wichtigen Forschungsgebiet. Ohnehin, verrät der Artikel, ist es fraglich, ob der Zufall existiert: so meinte etwa der irische Physiker John Stewart Bell, »that processes appear random, but that unknown properties or variables are working behind the scenes all the time.«(93) Eine Antwort darauf erhält der Leser im Gespräch zwischen Casey Reas und dem Computerwissenschaftler Scott Aaronson. Letzterer widerspricht der Behauptung des 1990 verstorbenen Physikers: man habe zwischenzeitlich in der Erforschung des Zufalls Fortschritte gemacht und könne heute Bells Annahme der verborgenen Variablen widerlegen.(119) Ohne eine Kenntnis wenigstens der Grundsätze der Bellschen Ungleichung wird man wohl nicht anders können als achselzuckend weiterlesen. Am Ende von Aaronsons Ausführungen fällt dann der versöhnende Satz, er arbeite an praktischen Anwendungen der Zufallszahlengenerierung, die »help protect our privacy.«(119)
Virtuelle Welten und Wall Street-Obsessionen
Nach der Meme-Unterbrechung 3/5 über die Wahrscheinlichkeit eines freien Willens, wird erneut das Thema Videogames aufgetischt: in »To Infinity – and Beyond!« – bekanntlich die unschlagbare und (eben deswegen) unwidersprochene Lebensmaxime des Toy Story-Helden Buzz Lightyear9)Toy Story, erster vollständig computeranimierter Film des Animationsstudios Pixar aus dem Jahr 1995, Regie John Lasseter, https://de.wikipedia.org/wiki/Toy_Story? – geht es um die für Computerspiele unverzichtbaren virtuellen Welten, deren Gestaltung und Produktion häufig aufwändig ist, Zeit und Budget verschlingt, aber eben auch gerne spektakulär sein kann und damit ein nicht zu unterschätzender kommerzieller Faktor sind. Die Fortschreibung der Überwältigungsästhetik findet ja – nach Oper und Hollywood-Kino – im Computerspiel statt. Auch hier helfen Algorithmen. Anstatt in mühevoller Handarbeit Game Designer in 3D-Programmen Polygone zurechtzupfen zu lassen, um ein Spiel mit Bäumen, Bergen, Tälern und Schluchten, Sonnenuntergängen, Tornados, Milchstraßen und Planeten auszustatten, entsteht die Welt, immer wieder neu, im Vollzug des Spiels – aus Code.
Auf den nachfolgenden Seiten findet man dann passenderweise eine Reihe von Strukturbildern, welche organischen Formen ähneln und auf klassischen Algorithmen beruhen. Ein zentraler Codeschnipsel aus Processing ist jedem Bild beigefügt.
Mit dem Einsatz von Algorithmen in der Wirtschaft und deren Vorgeschichte beschäftigt sich der Artikel »Boom, Bust, Repeat?«. Man erfährt von Kondratjev-Zyklen, Intervallen des wirtschaftlichen Auf- und Niedergangs, benannt nach dem russischen Ökonomen Nikolai Kondratjev, der seine Thesen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelte, als von Algorithmen noch keine Rede war. Zu den Nachfolgern gehört eine Gruppe von Wissenschaftlern um Peter Turchin an der Universität Connecticut, die auf der Suche nach überformenden Mustern in der Geschichte, den von ihnen so bezeichneten Ansatz der ›cliodynamics‹ entwickelten, mit dem sich weltbewegende Ereignisse besser erklären lassen sollen. Wie Kondratiev glaubt Turchin »political violence and instability follows approximately fifty-year waves.« (139) Wo sich Muster erkennen lassen, sind Vorhersagen möglich, und moderne Auguren, genannt »quantitative analysts«, lassen sich von Wall Street-Unternehmen ihr Zukunftsgeflüster vergolden. Die Obsession, menschliches Verhalten zu quantifizieren und somit berechenbar zu machen, hat uns so segensreiche Funktionen beschert wie die von Amazon zuerst eingeführten Empfehlungen für den nächsten Einkauf. An der Verfeinerung vorhandener Modelle wird selbstverständlich gearbeitet: Ereignisse sollen verfügbar sein, bevor sie eintreten, wie der Firmenname Recorded Future unmissverständlich klar macht, ein Unternehmen, das sich auf die Analyse riesiger, im Internet frei verfügbarer Datenmengen spezialisiert hat. Ob mit den Methoden wirklich zuverlässige Vorhersagen getroffen werden können, wird dann aber doch erst die Zukunft zeigen. Wichtiger sei es, so der Autor, dass es überhaupt Modelle gebe, die zumindest den Glauben an ihre Brauchbarkeit rechtfertigen.
Für eine unspektakuläre Kunst
Der zweite Teil der Encounters betitelten Künstlerportraits beginnt mit Rafael Lozano-Hemmer, gefolgt von Katie Paterson und Timo Arnall. Gegenüber dem ersten Teil, lässt sich hier eine größere Gemeinsamkeit feststellen: alle drei arbeiten sehr stark raumorientiert.
Rafael Lozano-Hemmer, »[who] made a career out of breathing life into machines, architecture, and public space« (170), betreibt mit neun Mitarbeitern das Studio Antimodular Research in Montréal, Kanada. Lozano-Hemmer, der an der Universität von Victoria Chemie studierte, aber schon bald mit Performance und Interventionen in Berührung kam, prägte für seine Arbeit den Begriff »relational architecture«. (171) Er transformiert Stadträume mit Hilfe von Licht und Projektionen und unter Beteiligung des Publikums. Licht ist für den Künstler allerdings weniger mit Geborgenheit, Erkenntnis oder Transzendenz verbunden, sondern mit Erfahrungen von Gewalt und Kontrolle: »Explosions, strobe lights, police interrogations«. (172) Alles Spektakuläre und Monumentale ist ihm dabei fremd, denn dies, so der gebürtige Mexikaner Lozano-Hemmer, »cannot be distanced from its desire for power«. (176) Vor diesem Hintergrund richtet sich seine aufklärerische und partizipative Kunst gegen eine neoliberale Stadtpolitik und eine immer weiter sich ausbreitende Kultur der Überwachung.
Verbindung zwischen Mensch und Kosmos
Nach der Sphäre des Sozialen wird der Leser ins Planetarische geleitet, wo das Thema Natur in größtmöglicher Dimension zurückkehrt. In den Arbeiten von Katie Paterson dreht sich alles darum, eine Verbindung zwischen Mensch und Kosmos herzustellen (181). Und wo Rafael Lozano-Hemmer ein möglichst großes Publikum einbindet, sucht die in Berlin lebende Schottin Paterson die Unterstützung der nicht-menschlichen Umwelt: »From Icelandic glaciers to the Sahara, Paterson has sought out and engaged diverse environments.« (182) Für ihre jüngste Arbeit, Future Library (2014–2114), die zugleich der erste größere Auftrag für den öffentlichen Raum ist, wurden im Jahr 2014 eintausend Bäume im Osloer Umland gepflanzt, welche hundert Jahre später gefällt und zu Büchern verarbeitet werden sollen. Unterdessen entsteht im selben Zeitraum der Inhalt der Bibliothek, indem Jahr für Jahr ein anderer Autor einen Text (als Manuskript) beisteuert, der aber erst 2114 gedruckt wird. So entsteht eine faszinierende Kollaboration zwischen Mensch, Natur und Zeit, deren Ergebnis von heute aus nur erahnt werden kann.
Leider hinterlässt der Artikel bei mir auch nach dem zweiten Lesen ein gewisses Unbehagen. Denn der hier angeschlagene kritische Ton – eigentlich das gute Recht eines Autors, auch bei einem Portrait – wirkt irgendwie zwanghaft und mutwillig: man muss es eine ärgerliche Besserwisserei nennen.
Childish Myths
Seit mehr als einem Jahrzehnt befasst sich der norwegische Künstlers Timo Arnall mit Technologien wie RFID 10)RFID, radio-frequency identification, eine Technologie, die elektromagnetische Strahlung zur kontaktlosen Identifikation nutzt; u.a. wird sie im 2010 eingeführten neuen Personalausweis eingesetzt. und verarbeitet seine Forschung zu Kurzfilmen, die man als eine Form von investigativem Journalimus bezeichnen kann. Arnall geht es darum, Strukturen von Technologien aufzudecken, »their architecture, the reasoning behind their creation, design, and adoption.« (194) Dinge, die für den Nutzer normalerweise im Verborgenen bleiben, der nur den reibungslosen Ablauf bewundern soll. Schon immer war es ein Merkmal von Technologien, dass sie ihre Technik mit einer glanzvollen Hülle umgeben, und in unseren Zeiten steht eine gewaltige Propaganda-Maschine genannt Marketing, bereit, »childish myths« (200) wie die »Cloud« unters Volk zu bringen. Aus dem Jahr 2014 stammt Arnalls vielleicht bekanntester Film Internet Machine. Dazu heißt es auf seiner Webseite: »Internet machine is a multi-screen film about the invisible infrastructures of the internet. The film reveals the hidden materiality of our data by exploring some of the machines through which ‘the cloud’ is transmitted and transformed.«11)http://www.elasticspace.com/2014/05/internet-machine
Alien Environments
Danach folgt Grid mit einem Artikel über »Artists in Labs«. Seit einigen Jahren erfreut sich die Zusammenarbeit zwischen großen Forschungseinrichtungen wie dem CERN und Künstlern wachsender Beliebtheit. Seinen Anfang hat der Trend im Jahr 2009 mit einem Konzept von Ariane Koek genommen, die das Collide@Cern Ars Electronica residency program begründete (206). Hier befindet man sich sozusagen im Zentrum, hier wird das wissenschaftliche Interesse der Künstler in der direkten Begegnung mit dem Dispositiv der Wissenschaften und ihrem Personal auf die Probe gestellt. Vermutlich aber ist die Auskunft von Klangkünstler Bill Fontana – der sich im üblichen Kunstmilieu eher schlecht verstanden fühlt –, er stoße in der Gesellschaft von Wissenschaftlern auf größeres Verständnis für seine Ideen und Methoden (206), alles andere als ungewöhnlich. Für die Institutionen ist es eine Möglichkeit, auf neuen Wegen ein anderes als das übliche Publikum zu erreichen. Die Künstler sind in ihrer Arbeit völlig frei, es wird nicht erwartet, dass sie in irgendeiner Weise die wissenschaftliche Arbeit illustrieren. »They are, however, expected to act as ambassadors, with their work and behaviour reflecting well on both the institute and its community«. (212) Der Grad der Reflexion variiert natürlich von Künstler zu Künstler und die Ergebnisse sind nicht vorhersagbar. Ruth Jarman und Joe Gerhardt, die als Künstlerduo Semiconductor zusammenarbeiten, und bereits eine ganze Reihe von Artist-in-Residence-Programmen absolviert haben, »describe their approach as anthropological, […]; they immerse themselves in the ›alien environments‹ of science institutes and pick away what they find.« (211) Dabei legen sie Wert darauf, jene Dinge zu zeigen, die von den Institutionen selbst unbeachtet bleiben, die aber in einer besonderen Weise aussagekräftig sind. Es gibt auch eine problematische Seite, die von der engen Verbindung zwischen Wissenschaft und Politik herrührt. Die Institute haben selbstverständlich kein Interesse daran, von den Künstlern in ein schlechtes Licht gerückt zu werden. Dennoch steht die Freiheit der Kunst nicht zur Disposition, und damit Unabhängigkeit gewahrt bleibt, erhalten etwa die Künstler am CERN »external support, independent of CERN’s funding from European member states.« (212)
Mit der Rubrik Frames und einem Bericht über die VR-Technologie Oculos Rift schließen die längeren Beiträge. Hier wird das Hauptproblem der immersiven Technologien aufgezeigt, nämlich die völlige Isolation des Anwenders, und nach neuen Wegen gefragt: »How can virtual reality move beyond introversion and foster deeper connections with our bodies, each other, and the world around us?« (214) Der Artikel stellt drei künstlerische Ansätze vor, die den mit VR verbundenen Isolationsmodus überwinden wollen. Am überzeugendsten gelingt dies in dem Projekt The Machine to Be Another (2014) der Künstlergruppe BeAnotherLab. »The Machine to Be Another allows two simultaneous users to temporarily swap bodies with another.« (224)
Am Ende von HOLO 2 befindet sich der Stream – eingebunden als achtseitiger Altarfalz, in dessen Innenteil Bilder zu den einzelnen Ereignissen in einem Raster angeordnet sind (Abb. 06). Das Layout wurde mit Adobe InDesign erstellt, allerdings musste das Programm dafür aufgebohrt werden: Die Designer Ted Davis und Ludwig Zeller von der The Basel School of Design begannen 2013 damit, die Scripting Library basil.js zu entwickeln, die generatives Gestalten in InDesign ermöglicht.
Mag der Spagat, den HOLO vollzieht – dessen Design homogener ist als sein Inhalt –, dem Leser auch einiges abverlangen und manchem als geistige Dehnübung zu weit gehen. Doch im Vorübergehen ist der Brückenschlag zwischen Kunst, Wissenschaft und Technologie nun einmal nicht zu vollziehen. Konzeption und Produktion von HOLO entspringen derselben Haltung wie die Kunst, über die hier berichtet wird. Das Magazin zeigt Kunst als avantgardistische Praxis, von der der französische Philosoph Jacques Rancière gesagt hat, sie wolle »keine Kunstwerke mehr erschaffen, sondern Lebensformen«.12)Jacques Rancière, Politik und Ästhetik. Im Gespräch mit Peter Engelmann, Wien: Passagen Verlag 2016, S. 50 Damit, so Rancière, behaupte sie sich gegen eine repräsentative Logik, die Kunst »in den Dienst politischer Ziele stellen«13)Ebd. will, was ja aktuell auch hierzulande von der regressiven Rechte wieder gefordert wird. Wissenschaft und Technologie sind hingegen Teil der repräsentativen Logik (mit gewissen Einschränkungen, wie die jüngsten Angriffe des US-Präsidenten selbst auf die Naturwissenschaften zeigen). In den von HOLO behandelten Themen prallen, deutlicher als anderswo, ästhetische Logik und repräsentative Logik aufeinander, und aus diesem Grund ist es ganz sicher eines der international interessantesten Kunstmagazine.
- HOLO 2. Emerging trajectories in art, science, and technology
236 pages, 22 x 29 cm, saddle stitch bound + ‘Cryptoclock’ paper random number generator
Fall 2016.
35 $ - http://holo-magazine.com/2/
- HOLO is a publication of Creative Applications Network
- www.creativeapplications.net
Anmerkungen
1. | ↑ | Frieder Nake, »Vorwort«, in: Christoph Klütsch, Computergrafik. Ästhetische Experimente zwischen zwei Kulturen. Die Anfänge der Computerkunst in den 1960er Jahren, Wien: Springer 2007, S. 10. |
2. | ↑ | Die algorithmische Revolution, ZKM 31.10.2004–06.01.2008, http://www01.zkm.de/algorithmische-revolution/ |
3. | ↑ | Rudolf Arnheim, Entropie und Kunst. Ein Versuch über Unordnung und Ordnung, Köln: Dumont 1979, S. 9. |
4. | ↑ | Ebd., S. 11 |
5. | ↑ | https://scriptographer.org/ |
6. | ↑ | http://paperjs.org/ |
7. | ↑ | »schön … wie die unvermutete Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch!« Lautréamont, Die Gesänge des Maldoror, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2013 [1869], S. 223. Die Surrealisten eigneten sich diese Formulierung Lautréamonts an. |
8. | ↑ | https://processing.org/ |
9. | ↑ | Toy Story, erster vollständig computeranimierter Film des Animationsstudios Pixar aus dem Jahr 1995, Regie John Lasseter, https://de.wikipedia.org/wiki/Toy_Story? |
10. | ↑ | RFID, radio-frequency identification, eine Technologie, die elektromagnetische Strahlung zur kontaktlosen Identifikation nutzt; u.a. wird sie im 2010 eingeführten neuen Personalausweis eingesetzt. |
11. | ↑ | http://www.elasticspace.com/2014/05/internet-machine |
12. | ↑ | Jacques Rancière, Politik und Ästhetik. Im Gespräch mit Peter Engelmann, Wien: Passagen Verlag 2016, S. 50 |
13. | ↑ | Ebd. |