Kunst und Neurowissenschaft sind ein seltsames Paar. Seit rund zwanzig Jahren besteht diese Beziehung, die mit einer euphorischen Annäherung im grossen Neuro-Aufbruch am Anfang des Jahrhunderts begann. Was will der Hirnforscher in den Künsten? Ist er ein Julian Assange in der Welt des Schönen, der mit Enthüllungen droht, und dafür von allen Seiten Geduld und Respekt erwartet? Und was hat die Kunst von diesem Partner?
Ein kurzer Blick ins Fotoalbum: Laborversuche an der Universität von Kalifornien hatten in den frühen achtziger Jahren gezeigt, daß der Freie Wille wissenschaftlich unauffindbar war. Die Experimente von Benjamin Libet, an anderen Forschungszentren vielfach wiederholt, machten deutlich, daß der bewusste Wille nur ratifizierte, was Millisekunden zuvor im Nervensystem bereits entschieden war. Fazit: Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun. Selbstbestimmung war in Wirklichkeit Nervensache. Das souveräne cartesianische Ich, das Handlungen anordnet oder unterlässt und das man für diese Entscheidungen verantwortlich machen kann, war keineswegs der Herr im Haus! Nach einer Latenzzeit von anderthalb Jahrzehnten erreichten solche Schlussfolgerungen aus den Libet-Versuchen als Schicksalsfrage der Menschheit die Zeitungsseiten und die Talkshows.
Ein neurobiologisch fundierter Determinismus war offenbar das letzte Wort nach zweitausendfünfhundert Jahren westlicher Denktradition seit den Vorsokratikern. Mit Anflügen von Panik reagierte die klassische Philosophie auf die neue Lage und schickte ihre besten Gewährsmänner in die Diskussionen mit den Neurobiologen, denen das Rampenlicht, die freie Bahn und die ihnen zugeschobene Autorität gut gefiel. Während die Philosophen der bedrohten Willensfreiheit beizuspringen versuchten, kletterten die Hirnforscher auf den tragenden Aufbauten der Selbstbestimmung herum, als wären es die Kulissen einer abgespielten Operette. Sie brauchten in den Diskurs der Philosophie gar nicht mehr einzusteigen. Der freie Wille war wissenschaftlich entlarvt und damit für alle Zeiten um seine Geltung gebracht.
Aufstieg einer neuen sprachlichen Superkompetenz
Es folgte die Proklamation der Neurobiologie und deren Selbstkrönung als »Leitwissenschaft« vor Vertretern der eigenen Zunft und der Medien – in Abwesenheit der Sozialwissenschaften, der Psychologie, der Geisteswissenschaften und der Künste.1)Vierkant, Tillmann (Hg.) Willenshandlungen. Zur Natur und Kultur der Selbststeuerung. Frankfurt 2008, versteht sich als Chronik und ›Fibel‹ der Diskussion des Willensproblems. (Auch sie hätten vielleicht etwas zum Thema Freier Wille zu sagen gehabt.) Das Publikum verfolgte die immer verbissener formulierten akademischen Stellungnahmen, Streitgespräche, Artikelserien ohne Zeichen größerer Anteilnahme oder Beunruhigung. Zur Verteidigung der Willensfreiheit gab es keine Mahnwachen oder Schulstreiks – die bürgerliche Ordnung geriet vorerst nicht ins Wanken.
Das Motiv dieser von den Medien aufgeführten »öffentlichen Diskussion ohne Öffentlichkeit«2)…so die Baseler Wissenschaftssoziologin Sabine Maasen, siehe 1., S.177 lag damals zu nah, um erkannt zu werden. Es ging den Organisatoren nicht darum, ob es Willensfreiheit gibt oder nicht. Es ging um den Aufstieg einer neuen sprachlichen Superkompetenz. Mit dem Diskurs der Hirnforscher trat eine neue semantische Hierarchie auf den Plan, die »objektiv wahrsprechende« Neurowissenschaft an ihrer Spitze. Ein halbes Jahrhundert nach dem weltweiten Siegeszug der Sprache der Kybernetik folgte jetzt ein neues totalisierendes Modell wissenschaftlicher Exaktheit und Objektivität, das eine Zeitenwende des Denkens und der Kultur ankündigte. Der Neuro-Diskurs lieferte die Sprachmuster für das beklemmende Abenteuer der Selbstbegegnung, zu dem der menschliche Verstand im neuen Jahrtausend aufgerufen war.
Man fand in den Redaktionen ein großes linguistisches Gefallen daran, wie die soft truths der Geisteswissenschaften auf die hard truths der Hirnforschung aufprallten – Crash-Frequenzen, an denen man sich nicht satthören konnte. Begriffe aus der Fachsprache der Neurobiologen (Bereitschaftspotential, Wirklichkeitsproduktion) wurden in den kulturkritischen Sprachgebrauch übernommen. Eine Lawine von Neuro-Publikationen brach ab 2000 über den Buch- und Beratungsmarkt herein. Für alle, die etwas verkaufen wollten, war die Gehirnforschung plötzlich wichtig und veranlasste eine gehirngerechtere Aufbereitung der jeweiligen Angebote. »Neuro« zählte zu den am stärksten frequentierten selling points am Beginn des neuen Jahrhunderts.
Keine Kunst ohne Gehirn — kein Gehirn ohne Kunst!
Einzelne Neurobiologen, zu Medienstars geworden, hatten sich an ein empfangsbereites Publikum gewöhnt. Sie entdeckten jetzt den universellen Kommunikationsanspruch der Kunst für sich und empfahlen sich als Gesprächspartner für Künstler, Literaten und Lyriker. Die wissenschaftliche Erklärung der Kunst und des Schönen wurde als höchste Berufung der Hirnforschung dargestellt. Der sendungsbewußte Londoner Neurobiologe Semir Zeki vom University College UCL erklärte sein Fach kurzerhand zur Wissenschaft des Schönen. Er hatte, selbst Maler, in den 90er Jahren den berühmten Balthus besucht und mit ihm eine Sammlung von Gesprächen über Kunst herausgegeben. Als Gründervater der »Neuroästhetik« pflegte Zeki in Unterhaltungen am Kamin vor geladenem Publikum Schriftsteller und Lyriker über die neuronalen Korrelate aufzuklären, die bei der Konstruktion von Reim und Rhythmus eine Rolle spielten: »Die Schönheit liegt im medialen orbito-frontalen Cortex des Betrachters«.3)Science Daily, 7. Juli 2011, Quelle: Wellcome Trust Keine Kunst ohne Gehirn — kein Gehirn ohne Kunst!4)Vortrag von Prof. Dr. Ernst Pöppel am Humanwissenschaftlichen Zentrum der Ludwig-Maximilians-Universität München am 03.04.2017, stellte der Münchner Neurowissenschaftler Ernst Pöppel einem seiner Vorträge als Motto voran und der in Parma lehrende Psychobiologe Vittorio Gallese gestand: Wer sich nicht mit Kunst auseinandersetzt, wird nie begreifen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.5)DIE ZEIT, 15.1.2017, Prof. Dr. Vittorio Gallese im Gespräch mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt Kunst ist für Neurobiologen offenbar jener sagenhafte »Magnetberg« aus mittelalterlichen Seekarten, der sie, bis hin zum Schiffbruch, unwiderstehlich anzieht.
Auch der gefeierte amerikanische Neurophysiologe und Nobelpreisträger Eric Kandel hat der Kunst (nach seiner wissenschaftlichen Laufbahn) mehrere passionierte Bücher gewidmet. In seiner ambitionierten Analyse der Wiener Moderne6) Kandel, Eric: Das Zeitalter der Erkenntnis. Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute, Siedler, München 2005 mit ihren Hauptfiguren Klimt, Schiele und Kokoschka entwirft Kandel die Vision von einer interdisziplinären Wissenschaft der Kunst, die einmal gemeinsam von Malern, Philosophen, Neurophysiologen und Kunsthistorikern entwickelt werden soll. Warum ging er selbst nicht mit gutem Beispiel voran? Die Hirnforscher in der Kunst haben eine ausgeprägte Vorliebe für Selbstgespräche — so verzeichnet der critical acclaim auf der Rückseite des Buches ausschließlich Stimmen von Neurobiologen. Die Bemerkung des Komponisten György Ligeti, im Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst komme es vor allem auf Geschmack an, ist an Einsicht den Kandel’schen Reduktionen um Entscheidendes voraus. Wenn Wissenschaft an die Öffentlichkeit gehen will, kommt sie um die Stilfrage nicht herum. Es ist der Stil, der die Kunst trägt, nicht die Theorie. Hier wäre für musisch gestimmte Neurobiologen ein (selbstkritischer) Ansatzpunkt gegeben. Der schreibende Neuro-Schöngeist stellt mit seiner wissenschaftlich überfrachteten Kunstliebe die längst obsolete »Theorie der zwei Kulturen«7)Snow, Charles Percy: Die zwei Kulturen. Literarische und Naturwissenschaftliche Intelligenz. C.P. Snows These in der Diskussion, dtv-Klett-Cotta, Stuttgart 1992. Der Physiker und Schriftsteller behauptete eine absolute Trennung zwischen literarisch-künstlerischer und naturwissenschaftlich-technischer Intelligenz. von C.P. Snow (1959) unfreiwillig wieder her und gerät gleichzeitig in eine literarische Notlage: was die Kunst an der Kunst ist, bekommt er mit seiner Fachsprache nicht zu fassen. Der Leser kann nicht verstehen, weshalb eine empirische Wissenschaft, die am Nullpunkt der Sinnlichkeit arbeitet, für die Erklärung und Beschreibung von Kunst prädestiniert sein soll.
»Beauty is perhaps a dangerous possession.« (Agatha Christie). Das neue Max-Planck-Institut für Empirische Ästhetik in Frankfurt am Main mit seiner neurowissenschaftlichen Abteilung verlegt sich auf die Vermessung von Schönheit – ob das einer wissenschaftlichen Theoriebildung dient oder eher den Verwertungsinteressen der Kulturindustrie 4.0 werden die kommenden Forschungsberichte zeigen. Auch am MIT in Cambridge/USA wird neurowissenschaftliche Kunstforschung betrieben. Solchen Initiativen fehlt es selten an Kapital, doch oft an Kultur – bislang die einzige Brücke zwischen Wissenschaft und Kunst. Bleibt beim Kunstbegriff alles offen, diffus und undefiniert, während die Forscher jedes ihrer Manöver exakt steuern und verifizieren, dann wird Kunst als mangelhaftes Gegenbild zum überlegenen Neutralitätspostulat der Wissenschaft missbraucht und sichert immer den Forschern den Vortritt und das letzte Wort. Wissenschaftlich ist ein solches Vorgehen nicht.
Kann Kunst von ihrem anstrengenden und übergriffigen Partner profitieren?
Das Eindringen der Neurowissenschaften in Ästhetik und Kunst wurde von Künstlern und Stilisten zumeist als Störung, unnötiges Stimmungstief und befremdliche Behinderung erlebt. Besonders die auf ihr Störpotenzial so stolze Freie Kunst sieht in der Zerebralisierung manchmal bis heute einen Versuch ihrer Stilllegung, der Sabotage. (In ähnlicher Weise verunsicherte einmal die Sinnesphysiologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts in erheblichem Maß die Praxis der Malerei. Claude Monet hatte Bücher von Chevreul und Helmholtz auf dem Nachttisch.) Wenn sich Choreographen, Schriftstellerinnen, Lyriker oder Maler heute mit einer gewissen Selbstverständlichkeit wissenschaftliche papers herunterladen, beweist das eine gewachsene Vertrautheit mit der empirischen Arbeitsweise der Wissenschaft, die von den Künsten heute einbezogen wird.
Seit dem Aufkommen des Radikalen Konstruktivismus vor vierzig Jahren, hat das Dauerfeuer der Infragestellung von Realität und Wahrnehmung in den Künsten irreversible Richtungsentscheidungen bewirkt. Man ist sich heute der Existenz neuronaler Verschaltungen bewußt, die jede Kunstpraxis (mit)bestimmen – die animalische, subpersonale Seite der Kreativität. Mentale Prozesse im Tanz oder bei der Komposition eines Parfüms, vormals ungreifbar und nicht zu hinterfragen, geben heute ihre Konturen preis. Die kognitiven Neurowissenschaften sind für die Künste insofern reizvoll, als sie die Aufgabe einer Formalisierung der absoluten Unmittelbarkeit stellen. Wir wissen heute, dass Malerei keine Aussagen zur Außenwelt machen kann, ohne sich über sich selbst und die Außenwelt zu täuschen. Metakognitive Prozesse tauchen auf den Leinwänden auf – die österreichische Malerin Maria Lassnig (1919–2014) war hierin die erste. Eine Poetik der Verschaltungen ist im Entstehen und hat bereits ihre Vorreiter in fast allen Künsten.
Kunst und Neurowissenschaft werden sich eines Tages wieder voneinander trennen. Vorerst brauchen sie sich noch. Der Neurophysiologe versucht über Kunst seine fachlichen Grenzen zu erweitern. Aus der Kunst läßt sich nicht mehr wegdenken was die Hirnforschung ihr zugeführt hat – ihr zeitgenössischer Vektor selbst würde gelöscht.
Ulysses Belz, geboren 1958 in Mainz, Ausbildung zum Buchrestaurator, danach Kunststudium an der Ecole Nationale Supérieure des Beaux-Arts in Paris und seitdem freischaffend. Nach jeweils mehrjährigen Aufenthalten in Athen, Frankfurt / Main, Riga, Madrid, 2010 Rückkehr nach Deutschland, lebt und arbeitet in Burgrain/Bayern. Richtete durch die Zusammenarbeit mit der französischen Metakognitions-Forscherin Joelle Proust seine gesamte Arbeit seit 2008 neu aus. Arbeiten befinden sich u. a. im Lenbachhaus/München, der Columbia University / NY, der Akademie der Schönen Künste / Wien. www.ulysses-belz.de
Anmerkungen
1. | ↑ | Vierkant, Tillmann (Hg.) Willenshandlungen. Zur Natur und Kultur der Selbststeuerung. Frankfurt 2008, versteht sich als Chronik und ›Fibel‹ der Diskussion des Willensproblems. |
2. | ↑ | …so die Baseler Wissenschaftssoziologin Sabine Maasen, siehe 1., S.177 |
3. | ↑ | Science Daily, 7. Juli 2011, Quelle: Wellcome Trust |
4. | ↑ | Vortrag von Prof. Dr. Ernst Pöppel am Humanwissenschaftlichen Zentrum der Ludwig-Maximilians-Universität München am 03.04.2017 |
5. | ↑ | DIE ZEIT, 15.1.2017, Prof. Dr. Vittorio Gallese im Gespräch mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt |
6. | ↑ | Kandel, Eric: Das Zeitalter der Erkenntnis. Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute, Siedler, München 2005 |
7. | ↑ | Snow, Charles Percy: Die zwei Kulturen. Literarische und Naturwissenschaftliche Intelligenz. C.P. Snows These in der Diskussion, dtv-Klett-Cotta, Stuttgart 1992. Der Physiker und Schriftsteller behauptete eine absolute Trennung zwischen literarisch-künstlerischer und naturwissenschaftlich-technischer Intelligenz. |