Er ist eine veritable Ausnahmeerscheinung: der belgische Multimedia-Künstler, Dramatiker, Komponist, Theater- und Opernregisseur Hans Op de Beeck (*1969). Kein Wunder, dass er die erste umfassende Retrospektive seines künstlerischen Œuvres als hochatmosphärisches Gesamtkunstwerk realisiert. Auf mehr als 2200 Quadratmetern in und um die große Ausstellungshalle können Besucher in die faszinierende Kunst-Welt von Hans Op de Beeck eintauchen – und werden das Kunstmuseum Wolfsburg nicht wiedererkennen.
Alles wird mehrdeutig, schon der scheinbar einfache Ausstellungstitel Out of the Ordinary hat doppelten Sinn: Zum einen entstehen die seltsam verfremdeten, oft modellhaften Orte und Situationen Hans Op de Beecks – ein nächtlicher Vergnügungspark oder die Containerbaracken einer Schiffswerft – aus dem unmittelbaren Lebensalltag heraus. Zum anderen werden sie im präzisen Einsatz von Licht, suggestiven Ausstattungsdetails und magischen Musikeinspielungen im Wortsinn außerordentlich.
Empfangen werden die Besucher des Kunstmuseums Wolfsburg im evokativen Interieur eines Sammlers. Die denkwürdige Kreuzung aus Pompeji und neureicher Oligarchen-Schatzkammer vereint Kunst und Leben gleichermaßen: Hier werden Gemälde und Bücher ebenso wie Menschen und Pfaue gesammelt. Der großzügige Balkon dieses eklektischen Collector’s House ermöglicht einen ersten Blick auf die Dächer der Fabrikhallen und Stadtrandhäuser zu Füßen des Sammlerdomizils. Diese düstere Unterwelt, irgendwo zwischen Industriebrache und Vorstadttristesse, ist mit ihren Strommasten und Straßenlaternen, ihrem Kabelgewirr und Straßenmüll ebenso Teil der eigens für die Wolfsburger Schau entstandenen Totalinstallation. In ihrem Inneren beherbergt sie die wichtigsten Installationen, Videos und Modellsituationen, die Hans Op de Beeck bis dato geschaffen hat.




Der Bogen der ausgestellten Werke spannt sich von Hans Op de Beecks frühester Raumarbeit Location (1) von 1998 über raumgreifende Werkensembles bis hin zur Wolfsburger in situ-Installation Out of the Ordinary und dokumentiert so neunzehn Jahre intensiven künstlerischen Schaffens. Zu erleben ist neben hypnotischen Videos wie Staging Silence (2) oder Night Time, dem begehbaren Stillleben einer lichtdurchfluteten Dachkammer in The Garret oder dem sich meditativ im Wasser spiegelnden Settlement von 2013 auch ein veritables Museum im Museum. Sea of Tranquillity von 2010 vereint in hohen Sälen mit Wandpaneelen lebensgroße Wachsfiguren, Schiffs- und Hafenmodelle sowie einen kryptisch-faszinierenden Spielfilm der anderen Art.
Hans Op de Beeck ist ein Meister der Perspektivwechsel: Bei seinen Räumen im Maßstab 1:1 liegt die Irrita-tion meist nur in subtiler farblicher oder materieller Veränderung. Dann wieder schrumpft mal der Besucher angesichts des übergroßen Table (1) von 2006, mal die ganze Landschaft wie in Location (1). Stets geht es um das Wechselspiel von assoziationsreicher Abstraktion und realistischer Detailfülle. So sind die Straßen der eigens für das Kunstmuseum entstandenen Wolfsburger Industrievorstadt mit schrittdämpfendem Teppich belegt. Der Springbrunnen mit seinen Bänken auf einem kargen Platz in der Mitte der Gesamtanlage jedoch ist höchst real. Die Wasserfontäne verstärkt gerade in ihrer sprudelnden Lebendigkeit die Traumverlorenheit der Szenerie.
Hans Op de Beeck ist ein Erzähler von Geschichten zwischen den Zeilen, ohne Anfang und Ende, oft verblüffend, meist melancholisch, immer eindringlich. Zugleich fragt er danach, was Räume in uns auslösen und führt uns in der atmosphärischen Verdichtung seiner Werke zu ebenso genauer wie intensiver Wahrnehmung. Er entrückt uns unserem Alltag und lässt uns verreisen in seine sehr eigene, hoch auratische Welt, deren Zeitlosigkeit uns – paradox genug – uns selbst und unsere eigenen Lebensumstände umso bewusster werden lässt.
Der Œuvrekatalog als Buch zur Ausstellung
Parallel zur Retrospektive erscheint ein opulenter Gesamtüberblick über das Œuvre von Hans Op De Beeck in Buchform, der am 18. Mai 2017 vom Künstler selbst im Kunstmuseum Wolfsburg vorgestellt wird. Hans Op de Beeck. Works vereint ein Vorwort von Ralf Beil, ein Essay von Hans Op de Beeck sowie umfangreiche Bildstrecken und Kommentare zu sämtlichen Werken bis hin zur Wolfsburger Totalinstallation Out of the Ordinary. Format: 25 x 28 cm, 448 Seiten, Hardcover. Verlag: Kunstmuseum Wolfsburg / Lannoo, Tielt, Belgien, 58 € im Museumshop.
Ausstellungskurator: Dr. Ralf Beil, Direktor Kunstmuseum Wolfsburg
- Kunstmuseum Wolfsburg
Hollerplatz 1 38440 Wolfsburg - Öffnungszeiten: Di–So 11–18 Uhr
- www.kunstmuseum-wolfsburg.de