Giorgio de Chirico – Magie der Moderne

In ihrer Großen Sonderausstellung beschäftigt sich die Staatsgalerie Stuttgart im Frühjahr 2016 mit Giorgio de Chirico (1888-1978) und seiner Bedeutung für die Kunst der Europäischen Avantgarde.

Anhand von rund 100 hochkarätigen Gemälden, Zeichnungen und Druckgrafiken, u.a. aus dem Metropolitan Museum of Art und dem MoMA in New York, dem Musée national d’art moderne in Paris oder der Galleria nazionale d’arte moderna in Rom lädt die Präsentation in der Staatsgalerie dazu ein, einem bedeutenden Wendepunkt in der Kunst des 20. Jahrhunderts nachzuspüren.

Der 1888 in Griechenland geborene Italiener Giorgio de Chirico übt einen richtungsweisenden Einfluss auf seine Zeitgenossen und die nachfolgenden Künstlergenerationen in Europa aus. In seiner Malerei entwickelt er in den 1910er-Jahren eine hochkomplexe Bildsprache, deren vordergründige Gegenständlichkeit sich bei näherer Betrachtung in eine mysteriöse Welt voller Symbole und Anspielungen auflöst. Die seit 1909 entstehende Metaphysische Malerei findet ihren konzeptionellen Höhepunkt im oberitalienischen Ferrara, wo de Chirico ab Mitte 1915 bis Ende 1918 seinen Militärdienst ableistet.

Als eines der wenigen Museen in Deutschland besitzt die Staatsgalerie Stuttgart mit »Metaphysisches Interieur mit großer Fabrik« ein Meisterwerk de Chiricos aus dieser für die Kunstgeschichte so fruchtbaren Periode in Ferrara. 2016 – 100 Jahre nach seiner Entstehung – bildet es den Ausgangspunkt für diese Große Sonderausstellung zur »pittura metafisica« und ihrer Bedeutung für die Kunst der Europäischen Avantgarde.

Prof. Dr. Christiane Lange, Direktorin der Staatsgalerie Stuttgart, betont: »Bereits 1970 gelang es der Staatsgalerie Stuttgart, ein bemerkenswertes Gemälde von Giorgio de Chirico anzukaufen. Diese Ausstellung wird seine Malerei der »pittura metafisica« und besonders seinen Einfluß auf die künstlerische Avantgarde seiner Zeit einem breiten Publikum in Deutschland näher bringen.«

In der Ausstellung treffen zahlreiche in Ferrara entstandene Schlüsselwerke von Giorgio de Chirico und Carlo Carrà auf Gemälde und Zeichnungen von Künstlern des Dadaismus, Surrealismus und der Neuen Sachlichkeit. So offenbart sich die unmittelbar nach ihrer Entstehung einsetzende internationale Rezeption. Die besondere Bildsprache der »pittura metafisica« wird in zahlreichen Werken von René Magritte, Salvador Dalí, Max Ernst oder George Grosz aufgegriffen. Motive wie der »manichino« und das »Bild im Bild« werden in ihren Werken wie »So lebt der Mensch«, »Aquis submersus« oder »Der Diabolospieler« modifiziert und zeugen von ihrer intensiven Auseinandersetzung mit de Chirico.

Zwischen Giorgio de Chirico und Carlo Carrà kommt es 1917 zu einer engen künstlerischen Zusammenarbeit während ihrer gemeinsamen Zeit in der »Villa del Seminario«, einem psychatrischen Militärkrankenhaus, unweit von Ferrara. Der bisherige Futurist Carrà nimmt sofort Einflüsse aus de Chiricos Werk auf und entwickelt eigene metaphysische Kompositionen.

Der 1918 gegründeten Zeitschrift »Valori Plastici« kommt bei der Verbreitung dieser Metaphysischen Malerei eine herausragende Rolle zu. Als einer der ersten Künstler setzt sich der in Bologna lebende Giorgio Morandi mit der »pittura metafisica« auseinander und übernimmt für eine kurze Phase in seinem sonst stringenten Oeuvre in einigen wenigen Stillleben deren umrissorientierte Malweise. Auch in Deutschland kommen zahlreiche Künstler wie Max Ernst oder Kurt Schwitters über die „Valori Plastici“ erstmals mit der neuen italienischen Malerei in Berührung und greifen deren Bildsprache in ihren Werken auf. So geht Kurt Schwitters‘ 1943 zerstörter »MERZbau« auf seine MERZsäule zurück, die in direkter Umsetzung von de Chiricos Werk »Der große Metaphysiker« entsteht.

George Grosz adaptiert in seinen um 1920 entstandenen Bildern das Motiv der gesichtslosen Gliederpuppe, die stellvertretend für den nach Orientierung suchenden Menschen der Nachkriegszeit steht. Deutlich ist bei ihm so wie bei anderen Künstlern der Neuen Sachlichkeit der sozialkritische Ansatz zu spüren. Selbst der bissige Sozialkritiker Grosz verarbeitet den Einfluss von de Chiricos Bilderwelt unmittelbar in einigen Werken zu gesichtslosen Puppenmenschen in engen Stadträumen.

Mit dem Thema der »Welt als Bühne« schließt die Ausstellung ab und präsentiert mit »Hektor und Andromache« (1917) ein Highlight aus einer italienischen Privatsammlung, das nur selten ausgestellt ist. Giorgio de Chirico zitiert in seinem Bild das berühmte Liebespaar der griechischen Mythologie im Moment des Abschieds. Diese Szene verbindet er mit tagesaktuellen Ereignissen während des Ersten Weltkrieges. So verknüpft de Chirico immer wieder mythologische Themen mit seiner eigenen Biografie und der unmittelbaren Gegenwart.

Die Ausstellung wird organisiert von der Staatsgalerie Stuttgart und der Fondazione Ferrara Arte.

Kuratoren:
Paolo Baldacci und Gerd Roos, Archivio dell’Arte Metafisica, Mailand/Berlin
Prof. Dr. Christiane Lange, Staatsgalerie Stuttgart, in Zusammenarbeit
mit Birgit Langhanke