Das Bilderbuch Micsoda család! ist die ungarische Übersetzung eines weltweit erfolgreichen Werks des amerikanischen Autors Lawrence Schimel und der Kinderbuchillustratorin Elīna Brasliņa. Es sind zwei Geschichten, die den Alltag von Familien aus der Perspektive von Kindern mit ihren Haustieren und Eltern zeigen. In Früh am Morgen macht ein kleiner Junge zusammen mit der Katze Frühstück, während seine Mütter und die Schwester noch schlafen, wobei er ein Durcheinander veranstaltet. In Hundemüde, so der zweite Titel auf Deutsch, sorgt kurz vor dem Schlafengehen der Hund eines Mädchens für Trubel, so dass die Väter ihm hinterherlaufen, bis am Ende alle müde sind. Nur das kleine Mädchen ist vor Aufregung hellwach.
Herausgegeben wurde das Buch in Ungarn von Szivárványcsaládokért Alapítvány (Stiftung für Regenbogenfamilien), einer LGBT-Elterninitiative. Seitdem 2018 die spanische Originalausgabe erschien (der Autor lebt und arbeitet in Spanien), wurde das Buch auf Französisch, Niederländisch, Deutsch und Italienisch übersetzt, sowie auf Lettisch, Tschechisch, Slowenisch und Kroatisch. Auf Russisch wird es in Berlin von einer Organisation für russischsprachige LGBT in Deutschland herausgebracht. Demnächst erscheint es in sieben weiteren Ländern. Die ungarische Elterninitiative hatte auf dem Klappentext geschrieben, das Buch erzähle die Geschichte von »zwei Regenbogenfamilien«, auf dem Umschlag sind Name und Logo der Stiftung abgebildet. Aber das reichte nicht.
Kennzeichnungspflicht für nicht-traditionelle Inhalte
Ungarn hat die drittgrößte Buchhandelskette des Landes nach dem Verbraucherschutzgesetz mit einem Bußgeld von 700 Euro belegt. Ein Beamter der Bezirksregierung Pest, der Region um Budapest, sagte, die Buchhandelskette Líra Könyv habe Kunden getäuscht, weil das Buch in den Geschäften zwischen anderen Kinderbüchern platziert wurde, ohne dass ein angemessener Hinweis auf den Inhalt angebracht war. »Dieses Buch wurde zwischen anderen Kinderbüchern platziert und auf diese Weise haben sie gegen das Gesetz verstoßen«, zitiert Reuters den Beauftragten der Bezirksregierung. Neben der Verhängung des Bußgeldes ordnete die Bezirksregierung an, dass der Buchhändler sicherstellen muss, dass Kunden ihre Kaufentscheidung aufgrund »einer klaren Erklärung des nicht-traditionellen Inhalts des Buchs als wesentliches Merkmal treffen können«, berichtet das Börsenblatt. »Es ist irreführend, wenn nicht sichtbar gemacht wird, dass dieses Buch von einer Familie handelt, die anders als eine normale Familie ist«, erklärte der Regierungsbeauftragte.
Propaganda oder Normalität?
Das mit der Normalität sieht die Stiftung anders. »Regenbogenfamilien sind völlig normale Familien. Wir lieben unsere Kinder genauso, wir müssen morgens Kakao kochen, wir sind genauso genervt, wenn sie die Tapete mit Buntstiften bemalen, und sind begeistert, wenn sie zum ersten Mal bei der Schulfeier auftreten«, schrieb die Stiftung für Regenbogenfamilien in einer Erklärung auf ihrem Facebook-Account. »Diese Familien hatten bisher kein eigenes Geschichtenbuch. Deshalb fanden wir es wichtig, ein Bilderbuch über sie zu veröffentlichen – und natürlich für sie. Das Buch zeigt einfache, alltägliche Geschichten, die Sexualität der Eltern ist nicht einmal ein Thema.«
Der Autor sagte dem Guardian: »In diesen Geschichten ist die Tatsache, dass die Eltern zwei Mütter oder zwei Väter sind, nebensächlich, genauso wie im täglichen Leben von Kindern in Regenbogenfamilien. Diese Familien erleben nicht nur Homophobie, sie haben auch Spaß.« Rédli Balázs von der Regenbogenstiftung äußerte gegenüber ARTE: »Man wirft uns vor, Propaganda zu machen, aber die Regenbogenfamilien gehören zu unserem Land. Dass wir existieren, das ist keine Propaganda, wenn wir ein Buch für unsere Kinder herausgeben, ist das keine Propaganda. Sie können sich darin wiedererkennen und das ist wichtig für Kinder und Eltern. Eltern sollten die Kinderbücher kaufen können, die sie wollen. Wir zwingen niemanden.«
Unsichtbar per Gesetz
Lawrence Schimel erklärte, es sei bezeichnend, dass sein Buch unter Beschuss gerate, kurz bevor ein neues Gesetz gegen LGBT-Rechte in Ungarn in Kraft tritt. Das neue Gesetz war am 15. Juni verabschiedet worden und verbietet die Verbreitung von Inhalten an ungarischen Schulen, in denen Homosexualität und Transidentität dargestellt werden. Das Gesetz, welches am 8. Juli in Kraft getreten ist, verbietet, dass LGBT-Personen in Unterrichtsmaterialien, in Fernsehsendungen für Personen unter 18 Jahren oder in der Werbung vorkommen. Die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán behauptet, das Gesetz schütze Kinder und traditionelle christliche Werte vor dem, was sie als übermäßigen Liberalismus in Westeuropa ansieht.
Was die Ungarn wirklich denken
Es ist wahr, die nationalkonservative Fidesz-Partei des Ministerpräsidenten hat bei der letzten Wahl 49 % der Stimmen erhalten. Und die rechtsradikale Jobbik noch einmal 19%. Auch hat das ungarische Parlament das neue Gesetz gegen LGBT-Inhalte mit nur einer Gegenstimme und vielen Enthaltungen beschlossen. Das Gesetz war kurzfristig einem separaten, weithin unterstützten Gesetzesentwurf gegen Pädophilie angeheftet worden, was es den liberalen Gegnern im Parlament schwer machte, dagegen zu stimmen.
Es gibt in solchen gesellschaftlichen Situationen auch jene, die finden, da ist doch nichts dabei. Einige Buchhandlungen klebten den verlangten Aufkleber auf das Buch: »Dieses Buch enthält Verhaltensweisen, die von den traditionellen Geschlechterrollen abweichen.« Und es gibt anonyme Hinweisgeber, wie jenen, der die Verbraucherschutzbehörde auf das Buch hinwies.
Gleichzeitig erklären 46% der Ungarn gleich welcher politischen Richtung, dass die Ehe für Alle gesetzlich eingeführt werden sollte, und 62% sind laut einer neuen ipsos-Umfrage überzeugt, dass lesbische und schwule Paare in der Kindererziehung genauso erfolgreich sind wie andere.
Die Reaktion der ungarischen Kulturszene ist selbstbewusst. Die bestrafte Buchhandelskette hängte ein Schild in die Tür: »In dieser Buchhandlung verkaufen wir auch Bücher mit nicht-traditionellem Inhalt.« Der Ungarische Verleger- und Buchhändlerverband nannte das neue Gesetz »besorgniserregend« und »inakzeptabel«, die Landesjugendsektion der Lehrergewerkschaft protestierte dagegen, ebenso Nikoletta Szekeres, Präsidentin des Ungarischen Kinderbuchforums. Mittlerweile haben 265 ungarische Kinder- und Jugendbuch-Autoren, Illustratoren und Verleger einen offenen Brief gegen das Gesetz unterzeichnet.
Wie Elina und Lawrence sich fühlen
Elina ist Kinderbuchillustratorin und Grafikdesignerin. Wie hat sie sich gefühlt, als die Maßnahmen losgingen? »Ich war vor allem traurig und besorgt um die Verleger, aber nicht völlig überrascht, da es in Ungarn bereits Kontroversen um das vorherige Buch des Verlags gegeben hatte. Und als ich 2018 zustimmte, die Bücher für Lawrence zu illustrieren, war ich mir auch ziemlich sicher, dass es angesichts des Ausmaßes an Homophobie in einigen Ländern, in denen die Bücher erscheinen sollten – auch in Lettland, wo ich herkomme – Gegenreaktionen geben würde.« Elina hat Dokumentationen und Abenteuerromane für Kinder illustriert, ebenso Gedichte, und einen Trickfilm in Spielfilmlänge produziert.
Lawrence betont das Positive: »Bisher gab es in Ungarn große Unterstützung für das Buch, von Einzelpersonen und Buchhandlungen. Die Kette, die zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, Lira Könyv, weigerte sich, einen Warnhinweis auf das Buch zu kleben und klebte stattdessen einen Warnhinweis auf den gesamten Laden! Ich freue mich, wenn ich sehe, dass viele Familien auf Instagram Fotos von ihren Kindern posten, die das Buch lesen (oder von ihren Katzen oder einem Hund mit dem Buch).« Lawrence ist Autor, literarischer Übersetzer und Herausgeber. Er gründete die spanische Sektion der Society of Children’s Book Writers and Illustrators (SCBWI) und ist Jury-Mitglied verschiedener internationaler Kinderbuchpreise.
Die Europäische Union
Am 15. Juli hat die Europäische Kommission, das Regierungsorgan der Europäischen Union, das Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn wegen Verletzung der Grundrechte von LGBTIQ-Personen eingeleitet.
- Lawrence Schimel, Elīna Brasliņa
Hundemüde
Dachverband Regenbogenfamilien, 2021
10 CHF - Lawrence Schimel, Elīna Brasliņa
Früh am Morgen
Dachverband Regenbogenfamilien, 2021
10 CHF - www.regenbogenfamilien.ch/kinderbuecher/