Ein buntes Bilderbuch vom Leben im Rückwärtsgang

Hüte fliegen geradewegs in die Hände erstaunter Menschen

Nimmt man das Buch in die Hand, fallen einem die zahlreichen Farben, die gar nicht so große Größe und die eckig gestalteten Holzschnitt-Figuren auf, die durch Henning Wagenbreths neuestes Werk marschieren. Genau genommen, die Gestalten verlieren ihren Hut, weil der Wind ihn fortweht, lassen ein Tablett voller Gläser auf den Boden fallen oder fahren mit einem Roller über die Straße. Oder sie tun all dies rückwärts. Roller und Autos fahren rückwärts, Tabletts voller Getränke springen vom Boden empor oder Hüte fliegen, vom Wind herbeigetragen, geradewegs in die Hände erstaunter Menschen. Denn wir sind im »Rückwärtsland«, einer erfundenen Welt, in der Männer, Frauen und Kinder rückwärts sprechen und das Leben vom Ende zum Anfang abläuft.

Der Grund dafür ist, dass im Leben manches schiefgeht, und man wünscht, man könne in der Zeit zurück gehen und es ändern. Das Vorwort (natürlich ›Trowrov‹, nämlich rückwärts geschrieben) erklärt, was alles falsch laufen kann. Man verdirbt eine Mahlzeit, geht ohne Schirm oder Kleidung aus dem Haus oder raucht zu viele Zigaretten. Es geht auch schlimmer. Manchmal fährt man Hasen tot, betrügt, lügt und zerstört Freundschaften oder wählt eine Partei, deren Herrschaft nicht gut ausgeht. Was macht man dann? Man wünscht, man sehnt, man hadert mit sich selbst – es raubt einem nachts den Schlaf. Der Autor kennt das. Das durchweg gereimte Buch wurde »aufgeschrieben nachts im Bett, vom Zeichner Henning Wagenbreth«.

Henning Wagenbreth, Rückwärtsland, Peter Hammer Verlag 2021

Henning Wagenbreth, Rückwärtsland, Peter Hammer Verlag 2021

Wagenbreth, geboren 1962 in Eberswalde, gestaltet seit den 1990er Jahren illustrierte Bücher, er hat Illustrationen für die New York Times und DIE ZEIT gezeichnet, er produziert Veranstaltungsposter für Berliner Independent-Bands und Jazz-Festivals und betrieb viele Jahre in der Berliner Chausseestraße eine Minigalerie. Eine der letzten Ausstellungen dort zeigte 2018 die faszinierende, kreative Gestaltung historischer Streichholzschachteln aus Europa, Indien und Asien. Wenn ihm gar nichts mehr einfällt, spielt er in einer Bluegrass-Band, einer traditionellen Form der amerikanischen Folk-Musik aus den Hillbilly-Bergen der Appalachen. Wagenbreth ist seit 1994 Professor für Illustration und Grafikdesign an der Universität der Künste Berlin.

Nicht nur ein Kinderbuch

Das Motiv der ›verkehrten Welt‹ ist seit dem Mittelalter ein Teil volkstümlicher Komik, man findet es in Karnevalsbräuchen, moralisierenden Gedichten und den simplen Holzdrucken des 17. Jahrhunderts. Auf manchen Bilderbögen aus Épinal oder Neuruppin geht es um eine Welt, die auf dem Kopf steht. Da jagt der Hase den Jäger, da spendet der Arme dem Reichen einen Groschen und im Haus regiert das Weib über den Mann. Worüber man früher halt so lachte. Die Tradition gereimter Bildergeschichten, oft mit einer Moral versehen, ist spätestens seit dem Struwwelpeter und Wilhelm Busch in den Kinderbüchern angekommen.

Dass man es beim ›Rückwärtsland‹ nicht wirklich, oder nicht nur mit einem Kinderbuch zu tun hat, merkt man aber auch an der hohen Ausstattungsqualität. Die normale 4-Farb-Skala wird durch hochpigmentierte Farben intensiver, das unbeschichtete Werkdruckpapier gibt Griffigkeit, der Buchblock ist fadengeheftet. Man spürt das Faible des Peter-Hammer-Verlags für hervorragende, kreativ gestaltete Bilderbücher. Der Text ist aus einer von Wagenbreth selbst geschnittenen Schrift (Forest sans bold) gesetzt, deren feine Unregelmäßigkeiten gut zu den Holzschnittillustrationen passen. Außerdem hat das Buch ein eigens gestaltetes Vorsatzpapier, was man heute selten sieht.

 

Zurück in die Welt der Gegenwart

Nach einigen bunt bebilderten Kapiteln, wo Zeitungen die Nachrichten von morgen berichten, wo Bankräuber das Geld zur Bank bringen und wo Schiffe auf dem stürmischen Meer im Orkan versinken, nur um anschließend wohlbehalten in den Heimathafen zu gelangen, folgt am Ende des Buches (warum eigentlich dort?) das Nachwort (›Trowhcan‹). Der Leser wird ganz in der Tradition moralischer Traktate an die Hand genommen und zurück in die Welt der Gegenwart geführt, wo einiges anders und vielleicht besser geworden ist. »Wir haben hier im Rückwärtsland / nun so einiges gesehen. / Vielleicht ist es an der Zeit, / besser wieder umzudrehen?«

  • Henning Wagenbreth, Rückwärtsland
    36 Seiten, 19,8 x 29,7 cm
    Peter Hammer Verlag, 2021
    25 Euro
  • www.wagenbreth.de