Es zählt zu den Eigentümlichkeiten der Bildrezeption, dass ein Großteil der Betrachter dazu neigt, statt auf die Bildoberfläche, direkt hindurch auf das Motiv zu schauen. Wird in diesem eine Ähnlichkeit mit der äußeren Wirklichkeit erkannt, freut man sich und hält das Bild für gelungen. Wenn nicht, wendet man sich desinteressiert ab. Wer mit dieser Einstellung, bei der erstens die zweidimensionale Bildfläche unbeachtet bleibt und zweitens das Motiv nur bis zur erfolgreichen Situationserkennung abgetastet wird, an Bilder herantritt, bringt sich um einen wesentlichen Teil ästhetischer Erfahrung.
Der Zeichner und Fotograf Albrecht Rissler konzentriert sich in seinem Buch Komposition. Die Kunst der Bildgestaltung auf die typischen Vernachlässigungen im Alltagssehen: es geht ihm um die Erschließung der zweidimensionalen Bildfläche. Man kann sagen, dass wer die Bildfläche nicht sieht, überhaupt nicht merkt, dass er etwas wahrnimmt. Als wahrnehmender Mensch selbst nicht anwesend, bestätigt der Betrachter lediglich die Wirklichkeitsbehauptung des Bildes, die er selbst schon voraussetzt. Aber das Motiv eines illusionistischen Bildes – wie jedes anderen – besteht nun mal aus zweidimensionalen Flächen, aus Formen und Farben (oder Helligkeitswerte), die in einem bestimmten Verhältnis zueinander und zum Bildformat angeordnet sind. Daher ist die Kenntnis der Regeln zur Anordnung von Bildelementen auch keine zu vernachlässigende Nebensache. Die Komposition trägt nicht nur maßgeblich zur Qualität eines Bildes bei, an ihr wird vor allem die Gemachtheit eines jeden Bildes deutlich.
Blick und Bild
Auf die grundlegende Bedeutung der Komposition für das Bildermachen weist der Autor, der sich seit vielen Jahren mit dem Thema auseinandersetzt, im Untertitel Eine Sehschule nicht nur für Fotografen hin. Es ist klar, dass, wenn es ums Sehen geht, eine Beschränkung auf ein bestimmtes Medium oder Technik keinen Sinn macht. Gleichzeitig wird damit behauptet, Sehen müsse erlernt werden. Und es ist wohl auch kein Geheimnis, dass, obwohl dem Menschen bei Geburt zwei Augen mitgegeben werden, dies lediglich eine notwendige, leider aber keine hinreichende Bedingung des Sehens darstellt. Folglich geht es in dem Buch ebenso sehr um eine Kunst der Komposition wie um »eine veredelte Form des Sehens« (Rudolf Arnheim).
Albrecht Rissler weiß nicht nur wie man einen interessanten, im besten Sinne »pittoresken« Ausschnitt wählt, er hat, was dem stets vorausgeht, ein Gespür für Bilder oder anders gesagt, einen Bilderblick. Also nichts anderes als einen aktiven und selbst-bewussten Blick. Dass er zur Darstellung hier statt Zeichnungen Fotografien verwendet, liegt nicht nur daran, dass der Zeichner auch ein erfahrener Fotograf ist. Es mag auch daran liegen, dass mit Hilfe der Kamera manches leichter zu veranschaulichen ist. Schließlich verfügt die Kamera über einen Sucher, der nichts anderes ist als ein Finder: Ein technisches Hilfsmittel für unseren unbegrenzt schweifenden und suchenden Blick. Zwar verfügen wir nicht über eine 360°-Ansicht, auch ist unser Blick stets fokussiert, doch wir sind in der Lage, den Kopf zu drehen. Zudem ist der Blick kontinuierlich, es sei denn, wir schließen die Augen. Der Sucher verleiht dem schweifenden Blick einen Rahmen, der das Finden von Bildern erleichtert. Bild und Blick mögen große Ähnlichkeiten haben, identisch sind sie nicht. Im Sucher/Finder wird der Blick zum Bild und im Bild findet man den Blick wieder. Vieles von dem, was man im Bild sieht ist also bereits im Blick vorhanden, er hat eine Struktur, die nicht auf Erfahrung basiert. »Sehen«, schreibt Rudolf Arnheim, »ist das Wahrnehmen von gerichteten Spannungen.«
Die Erinnerung gestalten
An aktuellen Fotoarbeiten, die größtenteils von ihm selbst stammen, zeigt Albrecht Rissler die Anwendbarkeit formaler Gestaltungsaspekte: Beginnend beim Format, geht er über Diagonale und Perspektive zur Vergitterung. Letzteres ist der wohl am wenigsten gängige Begriff, aber vielleicht auch die interessanteste Methode. Zusammengefasst handelt es sich um einen Blick hindurch, einen beobachtenden, mitunter auch voyeuristischen Blick, bei dem Objekte oder Personen im Vordergrund den eigentlichen Gegenstand der Aufmerksamkeit teilweise verdecken oder einfassen (Abb. S. 68–69, siehe unten). Von da aus geht es weiter über Anschnitt und Ausschnitt, Kontraste, Licht und Schatten zu Schärfe und Unschärfe, Strukturen und endet schließlich beim richtigen Moment.
Mit einer eher unattraktiven Aussicht vom Balkon eines südländischen Hotels eröffnet der Autor sein bildgestalterisches Plädoyer. Hier demonstriert er, wie zunächst das Umherschweifen in den Suchergrenzen die Bildwahl erleichtert, um dann mit Hilfe des Zooms auf den Punkt gebracht zu werden. Das entscheidende dabei ist aber die innere Einstellung, nämlich der Verzicht auf ein Motiv – nennen wir es ruhig die »Postkartenansicht« (die von dem Standpunkt aus nicht verfügbar war) – um ein anderes, überraschenderes zu gewinnen. Wer den Schwerpunkt auf die formalen Gestaltungsmittel legt, wird feststellen, dass sich auf dem Weg das Motiv, nach dem er gesucht hat, von ungewohnter Seite zeigt. Der Autor schreibt, »dass das Bedürfnis nach einer fotografischen Erinnerung und nach guter Gestaltung sich nicht ausschließen.« Das darf man wohl weiter zuspitzen: Gerade das gut gestaltete Motiv erfüllt den Erinnerungswunsch. Das Bildinteresse arbeitet im Erinnerungsinteresse. Nicht zuletzt, weil es mehr Geduld und Auseinandersetzung fordert.
Zusammenspiel der Mittel
Immer wieder betont Rissler auch die Bedeutung eines asymmetrischen Bildaufbaus, ohne jedoch dogmatisch darauf zu bestehen. Denn Symmetrie und andere »Regelverstöße« bieten sich bei manchen Motiven als die bessere Alternative an. Jedes Bild ist anders, Komposition basiert auf Regeln, nicht Gesetzen. Spannung und Kontrast sind wohl die obersten Prinzipien, die sich in allen Gestaltungsaspekten wiederfinden. Ob Form, Größe, Proportion, Detail, Fläche, Richtung, Struktur, Helligkeit oder Inhalt (und natürlich Farbe, aber auf die verzichtet der Autor, er verwendet ausschließlich Schwarz-Weiß-Beispiele, was aber kein Nachteil ist). Stets geht es um den bewussten Einsatz der Mittel in kontrastierender Weise. Natürlich entfalten in einem Bild immer mehrere gleichzeitig ihre Wirkung. Allerdings nie gleich stark, mal überwiegt der Formkontrast, mal der Helligkeits- oder Größenkontrast usw. Manchmal wirken zwei starke Kontraste zusammen, wie in der Aufnahme von den Passanten nahe der Bibliothéque Nationale in Paris (Abb. S. 131, siehe unten). Hier spielen Helligkeits- und Formkontrast wirkungsvoll zusammen. Die Fluchtlinien sorgen für zusätzliche Spannung. Größen-, Form- und Helligkeitskontrast bestimmen die Strandaufnahme auf S. 135 (siehe unten). Der besondere Reiz entsteht aus der Kombination einer großen form- und strukturlosen sowie kontrastarmen Himmelsfläche, welche nahtlos in Wasser und Land übergeht, und den kleinen, ja winzigen Menschengestalten mit ihren eigenwilligen Umrissen, Gruppierungen und kräftigen Helligkeitskontrasten, die zudem durch ihre senkrechte Orientierung den tiefliegenden Horizont spannungsvoll durchbrechen. Zu recht kategorisiert Rissler das Beispiel als »Lichtraum«. Der Begriff betont prägnant und anschaulich das dominierende Gestaltungselement der Aufnahme und benennt dessen atmosphärische Dimension. Es ist wichtig, beides zu sehen, den Lichtraum als grundlegendes wahrnehmbares Phänomen der äußeren Wirklichkeit und seine ästhetischen Qualitäten des Diffusen und Formlosen.
Nicht immer sind die unbewusst wahrgenommenen Kontraste und Spannungen leicht zu identifizieren. Das belegt u. a. die sehr schöne Fotografie des von außen durch Milchglasscheiben aufgenommenen Cafés in der Londoner Tate Gallery (S. 161, siehe unten). Das vergleichsweise schlichte Motiv entpuppt sich bei näherem Hinsehen als komplexes Gebilde aus Schärfe-Unschärfe-Kontrast, Helligkeitskontrast, Form- und Flächenkontrast, Richtungskontrast, Anschnitt und Vergitterung. Wie wichtig es ist, sich einen Begriff zu machen, wird hier unmittelbar deutlich. Nur der Begriff erlaubt ein klares Verständnis des Wahrgenommenen und, einmal gefunden, sensibilisiert er in der Umkehrbewegung die Wahrnehmung. Begriffe sind Werkzeuge; mit einer Kamera zu arbeiten bedeutet, mit Begriffen zu arbeiten. Sehen heißt begreifen und dafür verwendet man Begriffe.
Diffuse Theoriefeindlichkeit
Hier wäre dann auch Kritik anzubringen: trotz des klaren Aufbaus und der durchgängig sehr guten Beispiele leidet der Band, der immerhin den Anspruch erhebt, ein Sehschule zu sein, schlicht unter den allzu knappen Texten. Eine Zusammenfassung der Gestaltungsregeln am Ende wäre ebenso sinnvoll gewesen wie weiterführende Literaturhinweise. Die hier vorgeführten Methoden basieren auf klassischen Kompositionslehren der Malerei und Erkenntnissen der Wahrnehmungspsychologie des 20. Jahrhunderts, insbesondere den sogenannten Gestaltgesetzen. Leider werden die kunsthistorischen Referenzen, etwa der Japonismus, nur im Text erwähnt. Auf eine bildliche Gegenüberstellung mit den Fotografien wurde ebenso verzichtet wie auf Zitate wichtiger Vertreter der wahrnehmungspsychologischen Kunsttheorie. Hängt es damit zusammen, dass sich das Buch an interessierte Laien wendet, denen man glaubt Fachbegriffe und ausführliche Erläuterungen nicht zumuten zu dürfen? Die diffuse Theoriefeindlichkeit unserer Zeit, in der alles immer ohne Anstrengung instantan zu Verfügung stehen soll – und die Fotografie steht dafür paradigmatisch –, steht dem Anliegen Albrecht Risslers und seinem eigenen professionellen Werdegang diametral entgegen. Wenn dem Buch etwas vorzuwerfen ist, dann, dass es nicht konsequent genug ist. Zu empfehlen ist es als Anregung und erster Schritt, um über das auf Situationserkennung und Informationsverarbeitung reduzierte Alltagssehen hinauszugehen und reichere Wahrnehmungserlebnisse zu ermöglichen.
Mehr über Albrecht Rissler erfahren Sie auf seiner Webseite www.risslerart.de