Eine der radikalsten und gleichzeitig poetischsten Annäherungen an die Realität praktizierten ab 1950 die Affichisten: Francois Dufrêne, Raymond Hains und Jacques Villeglé gehörten wie Jean Tinguely zur Künstlergruppe der Nouveaux Réalistes. Ihr Schaffen traf sich mit dem der Gleichgesinnten Mimmo Rotella und Wolf Vostell. Die vom Museum Tinguely und der Schirn Kunsthalle Frankfurt gemeinsam konzipierte Ausstellung Poesie der Großstadt. Die Affichisten hat eine künstlerische Strömung zum Thema, die ausserhalb Frankreichs, auch in der Schweiz und in Deutschland, bisher weitgehend unbeachtet geblieben ist. In der Schweiz werden die Affichisten nun erstmals überhaupt umfassend gezeigt. Die Ausstellung ist als Parcours angelegt, der den Stadtraum als Ort vielfältiger Inspiration für Flaneure vorführt und Begegnungsorte für die radikalen Inventionen dieser fünf Künstler schafft; seien es Décollagen, filmische, fotografische oder auch poetische Experimente.
Dufrêne, Hains und Villeglé, später auch Rotella, formierten sich zusammen mit Arman, Yves Klein, Martial Raysse, Daniel Spoerri und Jean Tinguely zu den von Pierre Restany 1960 mittels Manifest begründeten ‚Nouveaux Réalistes‘. Damit ist zwar das künstlerische Feld abgesteckt, das sich um den kleinsten gemeinsamen Nenner, die ‚nouvelles approches perceptives du réel‘ dreht. Doch berücksichtigt diese Zuordnung im Fall der Affichisten nicht, dass sie schon um 1950 wichtige Wegbereiter für ein neues Denken waren, das das erweiterte Feld künstlerischen Handelns und Schaffens um 1960 erst vorbereitete. So ist es auch kein Zufall, dass sich wichtige Ideen für Restanys erstes Manifest der ‚Nouveaux Réalistes‘(1960) aus einem bereits 1958 publizierten Text von Jacques Villeglé, Des réalités collectives, ableiteten. Die Affichisten kamen allerdings erst mit Verzögerung und im Kontext der ‚Nouveaux Réalistes‘ an der 1ère Biennale de Paris 1959 und anschliessend mit Einzelpräsentationen in der Restany nahestehenden Pariser Galerie J zu ihren ersten Ausstellungsgelegenheiten. So war die Formation der ‚Nouveaux Réalistes‘ für die Rezeption und den Erfolg der Affichisten von kaum zu überschätzender Bedeutung.
Herkunft und Entwicklung der fünf vorgestellten Künstler waren, bevor sie sich zu Kollaborationen, gegenseitigen Werk-Widmungen und gemeinsamen Auftritten zusammenfanden, höchst unterschiedlich. Was sie jedoch einte, war ein disziplinenübergreifendes Denken und Wirken: Performatives Handeln, Poesie, Lautmalerei, theatrale Aktion, Happening, Fotografie und Film gewannen durch das Medium der Décollagen und den Prozess des Décollagierens Form. Gleichzeitig wohnt ihren Werken, die vom kleinsten Fragment – kleine Etüden und Studien – bis zum überwältigenden Grossformat reichen, aber auch malerisches und bildhaftes Potential inne, worin Gegenständlichkeit und abstrakte Lesart ebenso selbstverständlich wie zufällig vereint scheinen.
François Dufrênes Herkunft als lettristischer und ultra-lettristischer Lautschöpfer, Sprachzersetzer und -aktionist formte die Art seiner Aneignung von Plakaten mittels Sprachspielen – eine teilweise kryptisch-vergegenständlichende Interpretation abstrakter Formfragmente – eine Faszination für Zeitlichkeit, den Abdruck und das archäologische Verfahren der Schichtung, wie sie seine herausgeschälten Plakatrückseiten zeigen. Mit Raymond Hains teilte er die Freude an der ins Absurde reichenden De- und Reformierung des Sprachlichen und des Bildlichen, das bei Hains noch mehr dem Spielerischen, dem puren Zufall und der freien Assoziation zugewandt war und die Stadt als Quell für Perlenketten poetischer Handlungen verstand. Zusammen mit Jacques Villeglé schaffte Hains schon Ende der 1940er Jahre die ersten Plakatabrisse, wovon der wohl berühmteste, Ach Alma Manetro (1949), den Auftakt zur Ausstellung bildet. Ab 1950 entwickelten sie in einem komplexen Verfahren der Transformation mittels optischer Verzerrung und wechselnden Medien den Film Pénélope, der exemplarisch wie die Décollagen für konzeptuelle Verfahren des Findens (mehr als des Erfindens) steht. Für Villeglé seinerseits ist das Medium des Plakats ein schier unendlicher, sich ständig erneuernder Fundus des Gegenwärtigen, der eine spezifische Ästhetik und Temporalität konserviert, und damit im Laufe der Zeit auch den jeweiligen ‚historischen Ort‘.
All dieses Material stellt die Metropole in ‚autopoetischer Produktivität‘ dem geneigten Stadtspaziergänger zur Verfügung. Sei es Paris für Dufrêne, Hains, Villeglé, oder auch Vostell, sei es Rom für Mimmo Rotella. Rotella, der durch Bekanntschaft mit Restany zum Kreis der ‚Nouveaux Réalistes‘ stösst, experimentierte seinerseits unabhängig von den anderen Affichisten schon ab 1953 mit Décollagen. Auf noch früher datierte Collagen folgen in formaler Ähnlichkeit erste Décollagen und Rückseiten, die als eigentliche Materialbilder ebenfalls das Thema des Archäologischen behandeln, und die sich auf die besondere Qualität von verwittertem Papier und ihrem rückseitigen Träger richten. Im Gegensatz zu Hains und Villeglé greift Rotella aber auch direkt in die Oberfläche ein, um Strukturen, Muster und Schichtungen offenzulegen. Nach 1960 ändern sich die Gegenstände seiner Plakatabrisse. Nun sind es meist bunt beworbene Produkte der Konsumwelt und Filmplakate, die ihn zentral interessierten. Darin trifft er sich wiederum mit Villeglé, den dieselbe Faszination für die populären Bilder der Werbung beschäftigte. Sie werden damit zu Pionieren der Pop-Art. Nicht nur im Zusammenhang mit Plakatabrissen, sondern als umfassenden Kunstbegriff verwendet Wolf Vostell den Begriff der ‚Dé-coll/age‘, um Dekonstruktion als schöpferisches Verfahren zu betonen. Plakatabrisse verwendet er in einem seiner ersten Happening, Das Theater ist auf der Strasse von 1958, bei dem das Publikum zur Aktion aufgerufen wurde, Textfragmente zu zitieren oder (fragmentiert) abgebildete Gesten zu imitieren. Aktionistische Elemente der Bearbeitung oder Übermalung (durch das Publikum) ergänzen bei ihm das Verfahren der Auswahl und Aneignung.
Die Ausstellung Die Poesie der Großstadt umfasst den Zeitraum von 1946 bis 1968 und richtet ein besonderes Augenmerk auf die Entstehung und frühe Phase der Affichisten, auf fotografische, filmische und poetische Experimente und Kollaborationen. Dass wir die fünf Künstler mit ihren bedeutendsten Werken vorstellen können, verdanken wir einer grossen Zahl von Leihgebern, die unser Projekt auf großzügige Weise unterstützen, was bei der Fragilität dieser ‚Papierarbeiten‘ nicht selbstverständlich ist. Die Präsentation ist als chronologisch und thematisch gegliederter Stadt-Raum angelegt, der die abstrakten Grossformate und die grossen gegenständlichen Décollagen besonders hervorhebt, aber auch das Thema der politischen Plakate ebenso wie die Faszination für Text, Textur und Struktur speziell vorstellt.
Im Rahmen der Ausstellung findet ein reichhaltiges Begleitprogramm mit Konzerten, Filmen und poetisch-literarischen Veranstaltungen in Basel statt, das den akzidentiellen Charakter dieser faszinierenden Kunstform auch für die Gegenwart aktualisiert. Die Ausstellung ist von Roland Wetzel, Direktor des Museum Tinguely, und Esther Schlicht, Kuratorin der Schirn Kunsthalle Frankfurt, konzipiert worden. PublikationZur Ausstellung erscheint im Snoeck Verlag eine reich bebilderte Publikation mit Texten von Bernard Blistène, Fritz Emslander, Esther Schlicht, Didier Semin, Dominique Stella und einem Interview zwischen Roland Wetzel und dem Künstler Jacques Villeglé. Deutsch-englische Ausgabe, 280 S. Buchpreis im Museumsshop: 42 CHF www.tinguely.ch