Andrea Scrimas Der chinesischstämmige Millionär in der Galerie Manière Noire, Berlin, besteht aus einer zweiteiligen großformatigen Textinstallation, einer Kleinskulptur und einem auf der Einladungskarte gedruckten Zeitungsfoto. Diese drei Elemente stehen in einer verschlüsselten Beziehung zueinander; die Ausstellung wiederum steht in Zusammenhang mit dem Buch Wie viele Tage, das nun in deutscher Übersetzung vorliegt 1)Literaturverlag Droschl, 2018. Ich habe mich mit der Künstlerin und Autorin über die Verhältnisse zwischen Literatur und Kunst, Bild und Abbild, Bildbeschreibung und Verräumlichung von Text unterhalten, kurz, die multimodalen Bedeutungsprozesse dieser komplexen Arbeit.
Myriam Naumann: »Kent Avenue; wie ich nichts von dem getan hatte, was in New York zu tun ich mir vorgenommen hatte, wie ich die Ausstellung abgesagt und stattdessen am Buch gearbeitet hatte«. Prozesse der Entstehung und der Hervorbringung z. B. von Wahrnehmung oder Materialität sind in Wie viele Tage stets präsent. Auch das Verfassen eines Buchs selbst wird zum Gegenstand des Texts. Wie sind das Buch Wie viele Tage und die deutschsprachige Übersetzung entstanden?
Andrea Scrima: Ich hatte als Künstlerin viele Jahre lang im Bereich der Textinstallation gearbeitet, d.h. ganze Räume mit Textzeilen gefüllt, die über Wände und Ecken liefen, um Türen und Fenstern herum. Am Anfang, in den Ausstellungen Through the Bullethole (Bemis Center for Contemporary Arts, Omaha), I walk along a narrow path (American Academy in Rome) und it’s as though, you see, it’s as though I no longer knew… (Künstlerhaus Bethanien Berlin in Zusammenarbeit mit Galerie Mittelstrasse, Potsdam) waren die Buchstaben mit der Hand gemalt, allerdings nicht handschriftlich, sondern stets Times Kursiv; mit der Zeit, als die Texte länger und die Aufbauzeiten kürzer wurden, habe ich Buchstabenschablonen verwendet, z.B. im Neuen Berliner Kunstverein, Kunsthaus Dresden, der museumsakademie berlin und im Museum für Neue Kunst Freiburg. Die Texte sind teilweise ortsspezifisch entstanden, für bestimmte Räume geschrieben, und oft in Verbindung mit Objekten oder Photographien konzipiert. Manchmal war es wichtig, dass ein bestimmter Satz z.B. kurz vor einem Lichtschalter an einer Wand endet, damit der Knopf auch eine Art Endpunkt setzte. Sowohl die Architektur eines Raumes als auch das Choreographieren der BetrachterInnen hatten mich interessiert: was passiert, wenn eine Textwand zu lang, dafür aber die Buchstaben zu blass sind, um den Textblock von einem Abstand lesen zu können, der ihn als Ganzes erfassen ließe – wenn die BetrachterIn die ganze Wand abschreiten muss? Wenn dieses Hin und Her, dieses Tigern auch eine inhaltliche Entsprechung im Text hat?
Das sind alles formale Überlegungen, und tatsächlich war für mich irgendwann der Schwerpunkt im Inhaltlichen, im Schreiben selbst. Die Frage lag nahe, ob die Texte auch im literarischen Kontext bestehen würden. So ist das Schreiben aus meiner künstlerischen Arbeit entstanden, es war eine fast fließende Entwicklung, und dennoch sah ich mich plötzlich mit einem kompletten Berufswechsel konfrontiert. Zu diesem Zeitpunkt, September 1999 – ich war bereits seit fünfzehn Jahren in Berlin – habe ich ein Künstlerstipendium des Berliner Senats erhalten, woraufhin ich eine Fabriketage direkt am East River gemietet habe und für ein Jahr zurück nach New York gezogen bin. Die Ausstellung, die ich in Verbindung mit dem Stipendium hätte machen sollen, sowie die Ausstellung, die ich meiner damaligen New Yorker Galerie angekündigt hatte, habe ich abgeblasen. Ich wollte ausschließlich schreiben. Es war eine sehr konzentrierte Zeit, es sind viele hunderte Seiten entstanden, aber der Roman, an dem ich damals gearbeitet habe und welcher indirekt im Buch Wie viele Tage erwähnt wird, ist immer noch nicht beendet. Ich habe meinem Verlag allerdings das fertige Manuskript für nächsten Sommer versprochen. Wie viele Tage 2)im Original: A Lesser Day, Spuyten Duyvil, Zweitausgabe 2018 ist später entstanden, nachdem ich bereits zurück in Berlin war. Ohne zu ahnen, dass ich kurz davor war, ein neues Buch anzufangen, habe mich abends an den Schreibtisch gesetzt und die ersten Seiten von Wie viele Tage, einfach so, niedergeschrieben. Die deutsche Ausgabe kam einige Jahre später als die englische heraus; die Übersetzung war eine Zusammenarbeit mit der Übersetzerin Barbara Jung, sehr intensiv, denn ich weiß ziemlich genau, wie meine Sprache auf deutsch klingen soll.
M.N.: In Deiner Beschreibung der Textinstallationen deutet sich an, dass der Raum ohne die Schrift und die Schrift ohne den Raum nicht zu denken ist. Das Abfassen des Buchs bedeutet dann wiederum eine andere Konzentration auf Inhalte, wozu in Wie viele Tage wiederum wirkliche und imaginäre Orte, Räume und Zwischenräume gehören. Noch vor der Idee ein Buch zu schreiben, bist Du von einer Art unbedarftem Anfang umgeben: »einfach so, niedergeschrieben«. Der Ort dafür ist der Schreibtisch. Auffallend häufig wird er auch in Wie viele Tage thematisiert: »und wie heikel die Ordnung auf dem Schreibtisch plötzlich zu sein schien« oder »und alles auf die unentbehrlichen Dinge des Alltags reduziert: ein Bett, ein Schreibtisch, ein Waschbecken, ein Gasherd, ein Kühlschrank«. Das Ich im Buch legt die »bebenden Hände« auf den Schreibtisch, sitzt am Schreibtisch und betrachtet die feindselige Oberfläche außerhalb der Wohnung oder lässt dort eine Flasche Wein fallen. Der Schreibtisch ist mehr als ein Möbelstück – welche Bedeutung hat er für Dich und für das Ich in Wie viele Tage?
A.S.: Wenn ich die Zusammenstellung von Beispielen anschaue, denke ich an einen Ort, an dem etwas Grundsätzliches entsteht, eine Art Unterbewusstsein. Ein Mensch, der am Schreibtisch sitzt, ist meistens alleine. Der Schreibtisch ist ein Ort des Denkens und des Schreibens. In Wie viele Tage ist er auch der Ort, an dem die Erzählerin ständig Fotos aus Zeitungen herausschneidet, eine Art Schauplatz für ihre nachdenkliche, betroffene, beunruhigte Begegnung mit der Welt
Eine zentrale Frage ist, ob wir uns in Orte »einschreiben«
M.N.: Die Textabschnitte in Wie viele Tage sind durch die fünf Berliner und New Yorker Straßennamen »Eisenbahnstraße«, Fidicinstraße«, »Bedford Avenue«, »Ninth Street«, oder »Kent Avenue« geordnet. Darüber hinaus zeigen sich die beiden Städte in ihrer räumlichen Beschreibung und das Ich bewegt sich dabei in wirklichen und imaginären Räumen. Welche Rolle spielen Räume für Dich? Wie lässt sich der Raum fassen
A.S.: In Wie viele Tage gibt es Räume, in denen die Erzählerin sich aufhält, Räume, an die sie sich erinnert, und Räume, die sie imaginiert. Eine zentrale Frage ist, ob wir uns in Orte »einschreiben«, ob ein Teil von uns übrig bleibt, nachdem wir diese Orte verlassen.
M.N.: Im Buch gibt es für diese Einschreibung eine sehr konkrete und humorvolle Szene in der »Kent Avenue«. Die doch noch nicht ganz ausgetrocknete Oberfläche des pinkfarben gestrichenen Fußbodens speichert unvorhergesehen den Fußabdruck des Ichs, während es über die Intensität des Farbtons sinniert. Diese »Narbe im Fußboden« oder das »filigrane Runzelmuster« bleiben erhalten und werden sogar zum Lager eines feinen Schmutzfilms, trotz allen Putzens. Braucht die Spur eine solche materielle Szenerie oder eröffnet nicht gerade sie beispielhaft, wie dünn die Grenze zwischen Materialität und Immaterialität, zwischen Anwesenheit und Abwesenheit des Menschen im Raum ist?
A.S.: Die »Narbe im Fußboden« ist die kleine und unauffällige Spur eines flüchtigen Moments. Die Idee, eine winzige verschrumpelte Stelle im Fußbodenlack zum Denkmal eines beiläufigen Gesprächs zu machen tendiert schon in Richtung Immaterialität (wenn nicht Absurdität), und dennoch existiert diese Spur, sie steht für etwas. Es gibt allerdings auch die unsichtbaren Spuren: In Wie viele Tage kommt eine Stelle vor, in der die Erzählerin einen nicht mehr existierenden Ort aufsucht: das Haus im South Bronx, in dem ihre Mutter aufgewachsen ist. Das Gebäude ist längst abgerissen, die Hausnummer nur noch als Lücke in einer numerischen Reihenfolge übrig geblieben, und dennoch, irgendwo in der Luft zwischen zwei zu einem späteren Zeitpunkt errichteten Gebäuden kreuzen sich die Koordinaten im Raum, an der Stelle nämlich, wo sich ihre Mutter als Kind ins Bett gelegt hat, wo ihr Kopf aufs Kissen fiel, jede Nacht, ihre ganze Kindheit durch.
Eine verschrumpelte, hohle Schale aus weißer Ölfarbe
M.N.: Noch einmal zurück zur Textinstallation. In der Ausstellung Der chinesischstämmige Millionär in der Berliner Galerie Manière Noire variiert das oben beschriebene Verfahren der Verräumlichung von Texten und es entsteht eine komplexe Verbindung von Literatur (Wie viele Tage) und Kunst (die beiden Exponate). Wie lässt sich das Verhältnis charakterisieren, das Dein Buch und die Exposition eingehen?
A.S.: Die Ausstellung besteht aus einer großformatigen Textinstallation auf zwei Wänden; gegenüber, auf einer an der Wand montierten Konsole, liegt ein kleines skulpturales Objekt. Obwohl ich früher viele solche Textarbeiten ausgestellt habe, gewinnt jetzt, nachdem ich ein Buch veröffentlicht habe, das Verhältnis zum Text plötzlich eine neue, vielleicht sogar problematische Dimension, denn die verwendete Passage stammt direkt aus Wie viele Tage. Es geht also nicht mehr um formale Fragen alleine; eine gegenseitige Befragung zwischen Kunst und Literatur wird hergestellt. Handelt es sich lediglich um die aufgeklappten, enorm vergrößerten Seiten eines Buches? Ein Bild wird beschrieben: ein aus der Zeitung ausgeschnittenes Foto, in dem eine Horde aufgebrachter Menschen das Haus eines Millionärs plündert. Im Vordergrund ist ein von mehreren Menschen hochgehaltenes Ölgemälde: das Porträt des Millionärs. Das Foto entstammt der neunziger Jahre, als in Indonesien lebende ethnisch chinesische Geschäftsleute plötzlich, als vermeintliche Verursacher der damaligen ökonomischen Krise, in Gefahr gerieten. Die Ich-Erzählerin beschreibt das Foto ausführlich, akribisch; sie rekonstruiert das Foto buchstäblich in Worte. Was für ein imaginiertes Bild entsteht aus dieser Beschreibung, habe ich mich gefragt, und wie verhält sich dieses Bild zur Vorlage? Es geht hier um die Beschreibung eines Bildes von einem Bild: ein Text über das gedruckte Foto eines Porträts auf Leinwand von einem Mann, der vor kurzer Zeit um sein Leben geflohen ist – ein Ölgemälde, das Sekunden nach der Aufnahme des Fotos zerstört wurde. Die medienreflexiven Aspekte dieses Verhältnisses interessieren mich sehr.
Hinzu kommt das bereits erwähnte skulpturale Objekt: Eine verschrumpelte, hohle Schale aus weißer Ölfarbe, die übrig blieb, nachdem ich einen halben Apfel über einen längeren Zeitraum mit vielen Schichten weißer Ölfarbe übermalt habe, während die Frucht darunter allmählich in sich zusammensank. Der kunsthistorische Bezug zum Stillleben und zur niederländischen Malerei dürfte klar sein; er besteht jedoch in einer Art Umkehr, denn Ölfarbe wird hier nicht als Mittel benutzt, um Arrangements von Blumen oder Obst vor dem Verfall abzubilden, sondern im konkreten Sinne eingesetzt, um Verderbliches physisch zu konservieren.
Dieses Objekt bildet einen wichtigen Hinweis für die Interpretation des Verhältnisses zwischen Installation und Buch
Eine Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Buch und Installation zu interpretieren
M.N.: Du spielst auf die »Ontbijtjes«, also die gedeckten Tische, auf die Obst-, Dessert- und Konfektstillleben der flämischen Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts an. Die Früchte wurden in ihrer ganzen Pracht kurz vor oder im Moment des Verfalls ästhetisiert. Auch wenn die reale Frucht, also die Vorlage längst verschwunden ist, bleibt die Leinwand mit dem Farbauftrag für Jahrhunderte zurück. Bei deinem Objekt verkehrt und radikalisiert sich dieses Prinzip: Die Farbe selbst wird zur skulpturalen Fruchthülle, während im Inneren zumindest Partikel des Verwesten erhalten bleiben. Kannst Du die Details dieser Verkehrung präzisieren und auch erklären, wie das Objekt zum Schlüssel für die Deutung des Verhältnisses von Installation und Buch wird? Vielleicht sogar unter Berücksichtigung, dass in Wie viele Tage die Entstehung eines solchen Objekts, in dem Fall eine Orange, zum Gegenstand der Literarisierung wird?
A.S.: Die üppigen Sillleben des »Ontbijtjes«-Genres waren Schauplätze der Gesundheit und des Genießens; gleichzeitig enthielten sie die ersten, oft unauffälligen, Zeichen des Verfalls, zum Beispiel eine Fliege oder eine kleine braune Stelle an einem Stück Obst. In einigen Bildern von Clara Peeters aus Antwerpen sind zudem winzige Selbstporträts der Künstlerin als Reflektion im Porzellan oder im Zinndeckel eines Kruges zu sehen: sowohl Selbstvergewisserung als auch weiterer Verweis auf die Flüchtigkeit unserer Existenz und auf den Tod.
Ein solcher Verweis liegt auch in meiner Arbeit; hier handelt es sich allerdings nicht um Abbildung, sondern um eine Art fossiler Abdruck. Die Umkehr, die hier stattfindet, liegt darin, dass die Ölfarbe nicht als Mittel der gegenständlichen Darstellung dient, sondern als Methode, um ein Objekt plastisch herzustellen. Dieser Unterschied ist unauffällig, aber wichtig, denn innerhalb der Ausstellung bietet dieses kleine Objekt eine Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Buch und Installation zu interpretieren. Es handelt sich nämlich nicht um einer Wiedergabe eines Romans oder einer Passage aus einem Roman, sondern um etwas grundsätzlich anderes. Etwas in sich Stabiles, Unabhängiges.
Wie viele Tage enthält zahlreiche Passagen, in denen künstlerische Prozesse beschrieben werden. Die Literarisierung dieser Prozesse stellt also auch Arbeiten her, die zwar immateriell und imaginiert, aber nicht weniger vorhanden sind. Es entsteht ein merkwürdiger Zwischenraum: Sind es bereits existierende Arbeiten, die hier wiedergegeben werden, oder sind sie erfunden? Wurde das präparierte Objekt erst nach ihrer fiktionalen Beschreibung hergestellt oder umgekehrt? Mich interessiert diese fiktionale Ebene sehr. Kunst und Literatur sind meist getrennte Bereiche und stehen nicht häufig in einem direkten Verhältnis zueinander. Es gibt einige Ausnahmen, zum Beispiel die Zusammenarbeit zwischen Sophie Calle und Paul Auster, die entstanden ist, nachdem Auster einige ihrer Projekte zum Gegenstand seines Romans Leviathan machte. Infolgedessen stellte Calle ein Faksimile einiger Buchseiten her, auf denen sie handschriftliche »Korrekturen« hinzufügt, um die Unterschiede zwischen ihrer Person und ihrer Doppelgängerin, der fiktionalen Künstlerin im Buch, zu verdeutlichen. Aber natürlich bleibt es beim Spiel und bei einer weiteren Fiktionalisierung.
In Wie viele Tage wird das oben erwähnte Zeitungsfoto in Worten beschrieben; in der Ausstellung Der chinesischstämmige Millionär füllen die Buchstaben dieser Beschreibung zwei ganze Wände, die zusammen eine Ecke bilden: Der Text wird so zum Bild. Die BetrachterInnen können also in einen Textraum treten, einzelne Passagen fragmentarisch aufnehmen, sich ihren eigenen inneren Bildern widmen. Gleichzeitig wird die Beschreibung indirekt mit ihrer Vorlage konfrontiert, denn das Foto ist auf der Einladungskarte abgebildet: kleinformatig, aber trotzdem eine Art »Korrektur«.
M.N.: Inwiefern verstehst Du die Einladungskarte als eine »Korrektur«?
A.S.: Es handelt sich um eine Korrektur in Anführungszeichen. Eigentlich geht es eher um einen Konflikt. Es entsteht ein paralleles, aus Wörtern geschaffenes Bild, das dem Ausgangsbild gegenübersteht, ihn teilweise überlagert. Der Text ist nicht nur Beschreibung, er enthält auch Beobachtungen über das Bild, die nicht auf dem ersten Blick offenbar oder verständlich sind. Und das Bild wiederum enthält Informationen, die sich der schriftlichen Annäherung widersetzen. Dadurch wird der »Ort« des Bildes unsicher und unstabil. Die Textinstallationen, die ich über einen längeren Zeitraum realisiert habe, haben allesamt diesen labilen Ort des Bildes als Gegenstand gehabt. Die Mehrzahl dieser Arbeiten bestand aus einer Kombination zwischen Text und photographischem Bild oder Text und Objekt. Eine Installation jedoch, die ich im Kunsthaus Dresden realisiert habe [how did he smile, how did he blow his nose?, 1999], besteht ausschließlich aus Text, denn ein anderes Bild ist bereits im Text vorhanden; jede zusätzliche visuelle Komponente würde stören. Der Inhalt dieses Texts ist schnell erzählt: Eine Frau entdeckt, dass sie bereits dabei ist, einen Mann, den sie einmal geliebt hat, zu vergessen. Sie ist im Besitz eines Fotos, das die Macht hat, oder vielmehr hatte, sein lebendiges Bild heraufzubeschwören, ihn in seiner Einzigartigkeit, seiner physischen Präsenz herbeizuzaubern. Zu ihrem Entsetzen entdeckt sie allerdings, dass das Foto plötzlich weniger hergibt als früher. Sie befürchtet, die Macht des Bildes bereits abgenutzt zu haben und beschließt, das Foto so selten wie möglich anzuschauen, in der Hoffnung, diesen Prozess des Verfalls irgendwie aufzuhalten. Aber natürlich geht es um die Macht ihrer eigenen Erinnerung: Das entsprechende innere Bild, das dabei evoziert wird, löst sich allmählich auf; der Ort des Bildes entfernt sich, wird unerreichbar. Die Installation besteht also ausschließlich aus einem Text, der sich anschickt, die endliche Natur des erinnerten oder imaginierten Bildes zu vermitteln
Eine Lücke, die auch eine eigene, eigentümliche Präsenz hat
M.N.: Du hast oben den Prozess beschrieben, wie der Text zum Bild wird. Die Galerie Manière Noire bietet verschiedene Wandflächen für Ausstellungen an. Du hast Dich bewusst für eine Anordnung der Buchstaben entschieden, die eine Ecke in die Textinstallation einbezieht und sich gerade nicht nur auf eine Wand konzentriert. Warum?
A.S.: Der Text ist auf zwei großen Wänden aufgeteilt, die von einem Spalt – der Raumecke – getrennt sind, also eine Lücke, die auch eine eigene, eigentümliche Präsenz hat. Es ist aus verschiedenen Gründen schlüssig, dass die Textinstallation diese Form annimmt. Es entsteht eine Dopplung sowie eine Betonung auf den Zwischenraum: zwischen Bild und Bildbeschreibung, Foto und Text, Textbild und Textinhalt, Kunstwerk und Buch. Auch inhaltlich ist die Idee des Zwischenraums zentral in dieser Arbeit. Die beschriebene Szene findet statt zwischen zwei extrem gegensätzlichen Situationen: Ordnung und Chaos. Das Foto selbst ist in zwei geteilt; links und rechts sind Menschen zu sehen, in der Mitte schwebt das gerahmte Porträt des geflohenen Millionärs. Die im Text beschriebenen Gesten dieser Menschen befinden sich allesamt in einem Zwischenzustand; sie sind, wie alle photographischen Bilder, »frozen in time«. Münder sind »halb geöffnet«, im englischen heißt es weiter »mid-jeer, mid-shout«; ein Mann mit geballter Faust ist »eingefangen mitten im Sprung, mitten im Zuschlagen«. Weiter gibt es die – extrem flüchtige – optische Verlängerung des Millionärskörpers durch einen anderen Mann, der hinter dem Ölbild steht, ein »Augenblick der Kongruenz zwischen dem wütenden Mob und dem Bildnis des Millionärs«. Außerdem verortet sich der Blick des Millionärs in einer anderen Art Zwischenraum: Seine Augen haben in die Augen des Malers geschaut, jetzt schauen sie in die Kamera und infolgedessen in die Augen des Zeitungslesers bzw. des Betrachters. Wir blicken auf das Bild eine Sekunde, vielleicht eine halbe Sekunde vor seiner völligen Zerstörung. In der Ausstellungssituation schließlich, wenn die BetrachterIn der Ecke des Raumes zugewandt steht, links und rechts umgeben von Text, nimmt er/sie den Platz des Ölgemäldes ein, wird zum Zentrum und, im übertragenen Sinne, zum Subjekt des (Text-)Bildes.
M.N.: In dieser eingenommen Position der BetrachterIn zeigt sich somit das Spiel der Blickwechsel, das zugleich den multimodalen Bedeutungsprozess Deiner Arbeit(en) bündelt. Die Thematisierung der indonesischen Aufstände der 1990er-Jahre ist nur ein Beispiel, dass Zeitgeschichte und das Politische eine präsente, wenn auch nie aufdringliche oder polemische, Ebene in Deiner Arbeit einnehmen. Wie finden die Zeitgeschichte und das Politische Eingang in Deine Arbeit(en) und welche Bedeutung nehmen sie in Wie viele Tage und in der Ausstellung ein?
A.S.: Der Fall der Mauer, die langen Schlangen von Menschen, die auf ihr Begrüßungsgeld warten, das Wochenende der Währungsunion, als in den meisten Läden fast alle Ostprodukte mit den bunten, um einiges teureren Westprodukten ausgetauscht werden, die Kriege im ehemaligen Jugoslawien und das Gemetzel: Diese und andere Szenen tauchen unvermittelt im Buch auf. Später, vor dem Jahrtausendwechsel, kommt noch das Unbehagen um die Zwillingstürme und die »YK2«-Manie hinzu – die Angst nämlich, dass die computerisierte Welt unfähig sei, sich an die vierstellige numerische Wende rechnerisch anzupassen und in eine Art Apokalypse ausarten könnte. Die Passagen werden wie in einer Trance beschrieben; das Politische kommt scheinbar nur am Rande des Erzählten vor, als Kulisse. In einem Buch jedoch, das die Linearität und die Chronologie komplett aufbricht, haben diese zeitgeschichtlichen Einschübe eine wichtige Funktion: Sie sind Koordinaten, die die unterschiedlichen Schauplätze auch zeitlich verorten.
Die Szenen, in denen die Ich-Erzählerin am Tisch sitzt und Zeitungsfotos ausschneidet, bilden ein Leitmotiv. Es wird aber nie erzählt, warum sie dies tut. Es geht offenbar um Kunst. Einige Bilder enthalten jedenfalls Szenen von Menschen, die Menschenbilder in ihren Händen halten. Immer wieder kommt die Ich-Erzählerin auf die Flachheit der gedruckten Bilder zu sprechen – dass das Auge zwischen dem abgebildeten Menschen und dem reproduzierten Bild-im-Bild nicht unterscheiden könne: ein Verweis auf die Immaterialität und letzten Endes auch auf die Unzuverlässigkeit der Bilder, insbesondere der Nachrichtenbilder – sowie auf die Unzuverlässigkeit der Berichterstattung im Allgemeinen.
Man kann sogar von einer Krise des Bildes sprechen
M.N.: Es wäre eine Möglichkeit gewesen, die in Wie viele Tage beschriebenen Zeitungsbilder im Buch abzudrucken – sei es zur Dokumentation, Illustration oder zur bildhaften (und nicht buchstäblichen) Verbildlichung. Nach allem, was Du erklärt hast, kam das nicht in Frage. Steckt in der Abwesenheit der Bilder bzw. in ihrer Transformation in die literarische Beschreibung auch eine Form der Kulturkritik?
A.S.: Eine Kulturkritik habe ich nicht direkt im Sinne gehabt. Wir sind von Bildern überflutet, man kann sogar von einer Krise des Bildes sprechen, denn die Überflutung bzw. digitale Manipulierbarkeit führt dazu, dass einzelne Bilder immer weniger Wirkung auf uns ausüben; wir sind unersättlich geworden, wir brauchen die unaufhörliche Zufuhr. Außerdem ist ein neues Misstrauen entstanden, eine neue Skepsis. So könnte man die Bildbeschreibungen in Wie viele Tage natürlich als Kritik lesen, als Rückbesinnung auf das Wort und auf eine Verlässlichkeit und Präzision, die man im Bildlichen nicht mehr voraussetzen kann. Für mich geht es aber um etwas anderes. Mich interessieren einfach die inneren Bilder, die in der Imagination der LeserInnen bei der Lektüre entstehen: was für ein Bild überhaupt entsteht. Oder ist es vielmehr eine Reihenfolge von aufeinander folgenden, fragmentierten Bildern, da die Sprache sich ja sequentiell entfaltet und nicht, wie beim Bild, als Ganzes erfasst wird?
M.N.: Ich würde gern auf zwei Setzungen in Wie viele Tage eingehen, den Titel und das Eingangszitat. A lesser day bzw. Wie viele Tage stellen das Zeitmaß »day/Tag« an diese markante Stelle des Textes – für alle sofort sichtbar – und reichern den Titel direkt mit einer Art Unbestimmtheit an.
Führt der Titel bereits in die Programmatik bzw. Methodologie von Wie viele Tage ein und bietet viel weniger, wie das so oft der Fall ist, einen eingängigen Hinweis auf den Inhalt? Und: Für die Ausstellung Der chinesischstämmige Millionär wurde auf einen Titel verzichtet, der offenkundig in Beziehung zum Buch steht. Warum?
A.S.: Der Titel der englischen Ausgabe, A Lesser Day, stammt aus einer Passage des Buches, in der die Ich-Erzählerin ein Fotoprojekt beschreibt, bei dem sie mit einer billigen Instamatic-Camera ein Foto pro Tag macht, für die Dauer eines Jahres. Es ist ihr wichtig, jeden Tag durch ein Foto zu repräsentieren. Die Mehrzahl der Bilder entstammen einer Wahrnehmung, die vom Malprozess geprägt ist: Erosionsmuster an einer Außenmauer, ein Lichteinfall auf dem Straßenpflaster usw. Es gibt aber auch Tage, an denen sie zu lange wartet und am Ende auf den Auslöser drückt, obwohl sie weiß, dass zu wenig Licht vom Tag übrig geblieben ist, um den Film zu belichten; dass es also zu keinem erkennbaren Bild kommen kann. So entstehen die »lesser days«, die Tage, an denen sie zwar etwas gesehen und dabei etwas gedacht hat, wovon aber kein konkreter Beweis übrig bleibt, außer den grünlichen oder bräunlichen monochromen Platzhalter, für deren Handentwicklung sie teures Geld bezahlen muss, denn die billigen Maschinen im Fotolabor überspringen automatisch diese normalerweise als wertlos betrachteten Bilder. Die Entwicklungsapparate sind so eingestellt; es ist nichts dagegen zu machen. Aber die Erzählerin besteht darauf, dass die »lesser days« dazugehören.
Darüber hinaus kommt die Wendung »a lesser day« in derselben Passage des Buches vor, in der auch ein anderes Bild beschrieben wird: eine Schlange verschütteter Farbe auf einem Bürgersteig, dessen Granitplatten irgendwann auseinander genommen und dann erneut zusammen gefügt wurden, aber in einer anderen Ordnung, so dass die Farbschlange keinen kontinuierlichen Fluss mehr bildet, sondern eine unterbrochene Linie, die mal in eine, mal in eine andere Richtung geht, ein Metapher für das unperfekte Rekonstruieren von Zeit und Erfahrung im Gedächtnis bzw. die Art und Weise, wie wir unser Leben im Rückblick wahrnehmen – wie wir es umschreiben. Diese beiden Metaphern sind thematisch ineinander geflochten.
Als wir an der deutschen Ausgabe gearbeitet haben, entdeckten wir, dass der Buchtitel schlicht nicht zu übersetzen war; deshalb haben wir auf eine andere, ähnlich wichtige Stelle im Buch zurückgreifen müssen. Der Titel Wie viele Tage enthält die zeitliche Ordnung, die hier so zentral ist, aber die Betonung ist eine andere: Sie liegt auf den Prozess des Denkens oder vielmehr des Überhaupt-Denken-Könnens, des Nicht-Denken-Könnens.
Dass der Titel der Ausstellung ganz anders lautet hat einfache Gründe. Der Ausstellungstext umfasst eineinhalb, zwei Seiten aus einem 194-seitigen Buch. Die Installation ist also weder Abbildung des Buches noch Leseprobe, sondern ein autonomes Werk, das nach seiner eigenen Gesetzmäßigkeit und seiner eigenen Logik operiert. Wie bereits erläutert geht es hier um das Verhältnis zwischen einer Beschreibung eines Fotos und dem Foto selbst. Aber dieses Verhältnis weist auch eine andere Ebene auf, die der Reproduktion. Die Distanz zum Original besteht aus mehreren Schritten. Optisch unterscheidet die digitalisierte, mit der groben Auslösung eines Offset-Rasters vielfach gedruckte Version eines eingescannten schwarz-weiß Fotos nicht zwischen real existierenden Menschen und Abbildung, in diesem Fall einem Ölgemälde. Auf der gedruckten Seite einer Zeitung wird alles gleich verflacht: das Gesicht des Millionärs genauso wie die Gesichter der Menschen, die ihn unmittelbar umgeben. In der Reproduktion schmelzen sie auf eigentümlicher Weise zusammen, schweben in einem gemeinsamen Raum. Alleine die lexikalische Beschreibung des Bildes trennt die Ebenen und stellt diese Unterscheidung zwischen Bild und Abbild wieder her.
Sogar die eigene Körperlichkeit wird von der Ich-Erzählerin als seltsam verändert empfunden
M.N.: Du hast Deinem Buch ein Zitat von T. S. Eliot aus dem Langgedicht Vier Quartette vorangestellt. »Sie, nun verschwinden sie, Orte, Gesichter, / Mit jenem Selbst, das sie zu lieben suchte, / Um gestaltet zu werden, in anderem Muster.« Wie fiel Deine Entscheidung genau auf diese Zeilen und welche Verbindung siehst Du zwischen Deinem Buch Wie viele Tage und dem Gedicht Vier Quartette?
A.S.: Die Verbindung liegt in dem Zitat. Eliot verweist auf das neue Muster, das entsteht, wenn man im Rückblick einen Sinn aus den Mustern des Vergessenen und Verschwundenen herstellt. Die Erinnerung ist stets eine Neuordnung. Das »andere Muster«, von dem Eliot schreibt, ist das Rekonstruieren der Vergangenheit, mit anderen Worten die Kunst, die Literatur, die Poesie.
M.N.: Das Vergessen und Verschwinden, Erinnern und Rekonstruieren der Vergangenheit sind in Wie viele Tage Prozesse, von denen die Erzählerin umgeben, ja, in welche sie unaufhaltsam verstrickt ist. Momente der Vergänglichkeit und des Todes sind dabei der Saum der Zeit, der diese Prozesse dynamisiert: Der Tod von Familienmitgliedern, von NachbarInnen, von Tieren sowie das Wissen um die eigene Vergänglichkeit. Geht es dabei neben der oben angesprochenen »Neuordnung« des Lebens auch um eine Selbstvergewisserung des Ichs? Und in welchem Verhältnis stehen für Dich der Tod und die Erinnerung?
A.S.: Die Erinnerungen, die in Wie viele Tage heraufbeschworen werden, setzen mit dem Tod des Vaters ein. Die Strukturen ihres Gedächtnisses, ihr Zeitempfinden, sogar die eigene Körperlichkeit wird von der Ich-Erzählerin als seltsam verändert empfunden. In ihrer Trauer erfährt sie die Zeit als etwas Wandelbares, Dehnbares; den gegenwärtigen Moment erlebt sie wie eine ferne Vergangenheit, an die sie sich aus einer unbestimmbaren Zukunft erinnert, so sehr wird ihre Wahrnehmung von diesem Verlust geprägt. Es geht weniger um Selbstvergewisserung als um Selbstauflösung. Alles steht im Zeichen des Todes; sogar das Töten von Insekten – und das Buch wimmelt von Insekten, die unbedingt leben wollen – erlebt sie als Massaker.
M.N.: Ich würde gern noch einmal zum Thema des „Musters“ zurückkehren. Der Begriff des »Musters« kann als eine Leserichtung für Wie viele Tage gelesen werden, denn Dein Buch sensibilisiert richtiggehend für das »Muster« als ein Phänomen in der Welt. Würdest Du das so bekräftigen wollen, dass das »Muster« ein Phänomen ist? Und welche »Muster« entfalten sich für Dich in Wie viele Tage?
A.S.: Es gibt die objektiv vorhandenen mathematischen Muster der Natur, und dann gibt es die Muster, die der menschlichen Wahrnehmung entstammen. Letztere können als empirisch beobachtete Strukturen, als projizierte Ordnung auf die Willkür der Welt oder als bedeutungsträchtigen Zeichen verstanden werden. In Wie viele Tage gibt es eine Passage, in der diese letzte Anwendung zum Vorschein kommt. Es geht um ein zufälliges Zusammentreffen von unscheinbaren »Ereignissen«: Ein Kaffeebecher, der von einem vorbeifahrenden Laster weggeworfen wird; ein kleines Rinnsal Hundeurin; ein Zettel, auf dem etwas gekritzelt steht. Für die Erzählerin bekommt deren Kreuzungspunkt eine seltsame Wichtigkeit, als ob etwas für sie dort geschrieben stünde, was sie nicht imstande ist zu lesen. Tatsächlich kommt dieser Zettel an einer späteren Stelle im Buch vor: Die Erzählerin findet ihn irgendwo in ihren alten Papieren, viele Jahre später, und wieder kommt es ihr wie ein Rätsel vor.
Die Chronologie, wenn es sie denn gibt, ist eine höchst unzuverlässige
M.N.: Ergänzend können neben psychologischen Mustern auch sprachliche Muster angesehen werden, welche die Welt nicht nur beschreiben, sondern auch hervorbringen. In Wie viele Tage gibt es das Muster »doch das kam später« dreiundzwanzig Mal. Es gleicht einem Stilmittel der Wiederholung und Andeutung und schafft eine zeitliche Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Was hat das »doch das kam später« für Dich beim Schreiben interessant gemacht?
A.S.: Ich wollte deutlich machen, dass die Chronologie, wenn es sie denn gibt, eine höchst unzuverlässige ist. Die Ich-Instanz versucht sich zu erinnern; während sie bestimmte Ereignisse bzw. ihre Innenwahrnehmungen dazu nacherzählt, gerät sie ins Strudeln. Sie muss sich immer wieder korrigieren. Wir erinnern uns ja nicht in einer linearen Abfolge, sondern auf ganz eigentümlicher Weise und über Umwege daran, was uns am emotionalsten geprägt hat. Eine zeitliche Ordnung daraus herzustellen bedeutet, dass man die Bruchstücke zunächst sammelt, um dann später in irgendeiner Form zusammenzubringen, damit das Ganze auch Sinn macht. Es wird dabei komponiert und auch erfunden; neue Konstellationen werden hergestellt, neue Bedeutungen geschaffen.
M.N.: Es ließen sich eine Reihe weiterer Themen anschließen – von der literarischen Form des Romans über die Frage des Autofiktionalen bis hin zur Rezeption. Beim letzten Punkt möchte ich gern anschließen. Dein Buch wird beständig in den Feuilletons renommierter Zeitungen und im Radio besprochen – und gefeiert. Das ist sehr erfreulich und sicherlich auch eine wichtige Bestätigung für Deine Arbeit. Auch zur Ausstellung gab es eine Reihe von Kommentierungen, z. B. in Gesprächen mit BesucherInnen. Was weißt Du über die Wahrnehmung der RezipientInnen und wie liest Du die Rezensionen zu Deiner Arbeit? Und spielt es dabei auch eine Rolle, dass Du die »Deutungshoheit« darüber abgibst?
A.S.: Meine Arbeit ist in dem Moment getan, wenn ich das Buch zu Ende geschrieben, die Ausstellung aufgebaut habe. Und dennoch: LeserInnen und AusstellungsbesucherInnen wollen immer gerne Einiges erklärt haben. Während der Ausstellung haben wir ja ein Künstlergespräch geführt, und die Rezeption war aufmerksam und konzentriert. Es hat also Sinn gemacht, die Themen noch mal im Live-Format zu diskutieren, die wir hier in aller Ausführlichkeit beleuchten. Ich habe dieses Jahr viele Lesungen gehalten, und jedes Mal andere Passagen ausgesucht, damit ich nicht immer das Gleiche erzähle; dadurch sind sie für mich spannend geblieben, die Fragen auch. Als mir allerdings die FAZ eine volle Seite für meinen Essay über Patriotismus 3)»Wie ich Amerika verlor«, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.08.2018 anbat, haben mich die vielen LeserInnenbriefe erst verwundert, dann aber erschreckt. Nach 95 Kommentaren in den ersten paar Stunden haben sie diese Meinung-Funktion deaktiviert. Ich wusste nicht, was für eine Überheblichkeit, einen Sarkasmus, eine Geltungssucht in der FAZ-LeserInnenschaft schlummert, geschweige denn die besorgniserregenden AfD-Sympathien, die offenbar immer salonfähiger werden. Oft lasen sie sich so, als hätten sie nicht meinen, sondern einen anderen, einen in ihrem eigenen Kopf feststeckenden Essay gelesen. Wenn meine Arbeit falsch gedeutet wird, gibt es wenig, was ich dagegen tun kann – oder auch will. Meine LeserInnen, mein Publikum finden mich trotzdem.
Das Gespräch entstand im Email-Austausch über mehrere Wochen vor allem im August und September 2018.
Der chinesischstämmige Millionär
Galerie Manière Noire, 08. September–19. Oktober 2018. www.manierenoire.net
Myriam Naumann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt-Universität Berlin. www.myriamnaumann.de
Anmerkungen
1. | ↑ | Literaturverlag Droschl, 2018 |
2. | ↑ | im Original: A Lesser Day, Spuyten Duyvil, Zweitausgabe 2018 |
3. | ↑ | »Wie ich Amerika verlor«, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.08.2018 |