Darstellungen von Tieren sind allgegenwärtig: auf Plakatwänden, in Zeitungen, Magazinen und Fernsehsendungen und natürlich auf Hunderttausenden von Bildern, die jeden Tag neu ins Netz geladen werden. Die Menschen scheinen regelrecht besessen von Tierbildern. Gleichzeitig sind Tiere im Zusammenhang mit Artenschutzprogrammen, gentechnischen Experimenten oder rechtlichen Fragen auch immer wieder Gegenstand öffentlicher Kontroversen. Seit ein paar Jahren untersuchen die sogenannten Animal Studies das Verhältnis der Menschen zum Tierreich neu und hinterfragen insbesondere die lange vertretenen humanistischen Annahmen über die rein äusserlichen Beziehungen zwischen Tier und Mensch. In den Schriften von Jacques Derrida, Gilles Deleuze und anderen Post-Heideggerianern wird das Tier zu einer zentralen Figur für spekulative Untersuchungen, die mit radikalen neuen Gedanken zu Ethik und Handlungsmacht von Mensch und Tier aufwarten.
Seit den 1970er Jahren haben sich auch Künstlerinnen und Künstler oft mit Tieren beschäftigt und traditionelle Darstellungskategorien hinterfragt, um so nicht nur die Beziehungen zwischen Mensch und Tier neu zu denken, sondern auch die eigene kreative Praxis. Beastly/Tierisch untersucht diese und andere Fragen anhand von Fotografien und Videos aus den letzten zirka zwanzig Jahren. In einer lebendigen und attraktiven Multimedia-Ausstellung kommen Werke von führenden schweizerischen und internationalen Künstler/innen und Fotograf/innen zusammen, darunter Nobuyoshi Araki, Sammy Baloji, Christoph Brünggel und Benny Jaberg, Balthasar Burkhard, Marcus Coates, Revital Cohen und Tuur Van Balen, Nicolas Deveaux, Charlotte Dumas, Sam Easterson, Filip Gilissen, Stephen Gill, Jitka Hanzlová, Mishka Henner, Pieter Hugo, Peter Hujar, Anna Jermolaewa, Simen Johan, Erik Kessels, Elad Lassry, Jochen Lempert, Chris Marker, Pietro Mattioli, Katja Novitskova, Alessandra Sanguinetti, Moussa Sarr, Carolee Schneemann, Xu Tan und Xiaoxiao Xu. In der Galerie ist ergänzend dazu eine innovative Zusammenstellung mit nicht-künstlerischen Fotografien und Filmen zu sehen – darunter Bücher, alte Poster und eine grosse Menge von Bildern aus dem Internet.
Der Ausstellungsparcours beginnt mit Künstlern, die vertraute Arten der Tierdarstellung hinterfragen, insbesondere eine traditionelle Perspektive, die (implizit und explizit) stets den Menschen ins Zentrum stellt: Sam Easterson setzt einem Gürteltier eine Kamera auf und hofft, so einer wahrhaft tierischen Sichtweise näherzukommen, während Jitka Hanzlovás konzentrierte und genaue Betrachtungen von Pferdekörpern einen egalitäreren Austausch zwischen Mensch und Tier nahelegen. Auch tierische Zusammenhänge gewinnen an Bedeutung, zum Beispiel in Gestalt von Vogelschwärmen wie im Film Following von Christoph Brünggel und Benny Jaberg. Die unheimlich menschlichen Tierporträts von Peter Hujar und Pietro Mattioli wiederum hinterfragen die traditionelle Opposition von (menschlicher) Innerlichkeit und (tierischer) Oberfläche. Klassische Serien aus der Geschichte der Fotografie – Balthasar Burkhards Escargot – werden mit Beispielen eines neuen digitalen Erhabenen kombiniert: Die Fotografien von Simen Johan oder Nicolas Deveauxʼ Film 5m80 scheinen die Tiere in einen reineren, möglicherweise post-humanistischen Zustand zu versetzen.
Es folgt ein Kapitel mit kritischerer Perspektive, in dem das Tier als Opfer menschlicher Ausbeutung erscheint, sei es durch Kontrolle oder indem es zur Ware degradiert wird. Die Ausstellung untersucht, wie Tiere in menschliche Abläufe und Leidenschaften verwickelt sind: Tiere werden eingesperrt, konsumiert, eingefangen oder anderweitig von der menschengemachten Tierindustrie verschlungen. Die schwindelerregenden Dimensionen der heutigen Landwirtschaftsindustrie zeigen sich in Mishka Henners Feedlot-Serie während Erik Kesselsʼ Reihe mit gefundenen Fotografien (In Almost Every Picture) als ironischer Kommentar zum Tier auf unserem Speiseteller verstanden werden kann. Thematisiert wird auch das Haustier und in Carolee Schneemanns Infinity Kisses das Tier als Objekt menschlicher sexueller Begierde. Gleichzeitig hat das Tier immer öfter eine kritische Funktion, entweder als politische Allegorie oder politisch radikales Zeichen, mit dem zum Beispiel in Sammy Balojis Collagen die kolonialistische Unterdrückung hinterfragt wird. Moussa Sarrs Video L’étalon noir konfrontiert uns wiederum mit der These, dass womöglich eine Verdrängung unserer eigenen Animalität für solche Unterdrückungen verantwortlich ist.
Beastly/Tierisch interessiert sich aber auch für selbstreflexive Formen einer künstlerischen Kritik, vor allem im Bild des Tiers, dessen Status durch die Darstellung verändert wird. So zeichnet Elad Lassry die formalen Möglichkeiten nach, wie das Haustier zum visuellen Fetisch wird, während Jochen Lemperts präziser Blick auf die Mikrostruktur der fotografischen Oberfläche Fragen zur tierischen Verkörperung und Vielfalt aufwirft. Dabei werden die immer »tierischeren« Positionierungen von zeitgenössischen Künstlern offengelegt, die eine biozentrische einer auf den Menschen zentrierten Perspektive vorziehen: Marcus Coates schafft quasi dreidimensionale Skulpturen, indem er seine eigenen makellosen Tierbilder, die er im Stil des National Geographic Magazins fotografiert hat, zerknüllt. Charlotte Dumas filmt in Anima ein schlafendes Pferd und suggeriert so nicht nur eine tiefe Verbundenheit zwischen Mensch und Tier, sondern schafft es sogar, das Menschliche fast ganz aus der Darstellung des Tiers verschwinden zu lassen. Die alte essentialistische Opposition zwischen Mensch und Tier wird so immer weiter aufgelöst, die Tiere erscheinen in diesen aktuellen künstlerischen Bildwelten als eigenständige kreative Wesen, die in unseren Fantasiewelten einen vom Menschen befreiten Raum erobern.
Den Abschluss der Ausstellung bilden Werke, die sich um die tierische Zukunft drehen, einschließlich der Möglichkeit, dass in unserer biotechnologisch und digital geprägten Gegenwart die tierischen Identitäten immer fabrizierter wirken. Revital Cohen und Tuur Van Balens neues Projekt Sterile mit künstlich hergestellten Fischen ohne Reproduktionsorgane suggeriert sogar das Ende einer wie auch immer gearteten sinnvollen Konzeption von »Natur«.
In einer eigens dafür eingerichteten Galerie sind außerdem nichtkünstlerische Fotografien und Filme aus verschiedenen alltäglichen Bildwelten zu sehen, in denen Tiere omnipräsent sind: auf Abbildungen in Büchern und Magazinen sowie auf Postern und Postkarten – und seit der Jahrtausendwende hauptsächlich als Bilder im Internet, das heute zu einem veritablen virtuellen Zoo geworden ist. Wie formiert sich das Tierische in dieser alltäglichen fotografischen Praxis heute neu? Die Galerie hat den Charakter eines Forschungslabors und Thinktanks. Die Zuschauer werden aufgefordert, sich aktiv mit diesen Bildern auseinanderzusetzen.
Katalog
Als Begleitung und Erweiterung der Ausstellung erscheint ein reich illustrierter Katalog bei Spector Books, Leipzig. Er enthält Essays zum Tierischen in der Fotogeschichte (Duncan Forbes), zum politischen und philosophischen Tier (Slavoj Žižek), zum virtuellen Zoo Internet (Ana Teixeira Pinto) und zu den sich verändernden tierischen Identitäten unter menschlichem Einfluss (Heather Davis). Preis CHF 29.-
Beastly/Tierisch wird kuratiert von Duncan Forbes, Matthias Gabi und Daniela Janser.
www.fotomuseum.ch