Das bereits 2011 im Benteli Verlag veröffentlichte Kompendium animation.ch zur Erfolgsgeschichte des Schweizer Animationsfilms ist nun als E-book mit eingebundenem Filmmaterial erhältlich.
Der Schweizer Animationsfilm hat sich im Bereich des Autoren- und Kurzfilms »in den vergangenen zwanzig Jahren international einen ausgezeichneten Ruf geschaffen«. Mit dieser Feststellung eröffnet Gabriela Christensen, Direktorin der Hochschule Luzern – Design & Kunst, den Band animation.ch über die Schweizer Animationsfilmszene. Für die angemessene Darstellung dieser Erfolgsgeschichte beauftragte die Hochschule Luzern den Autor und Dozenten Christian Gasser, der vielen als Mitherausgeber des nunmehr seit 30 Jahren erscheinenden Comic-Magazins STRAPAZIN bekannt sein dürfte. Um die »Vielfalt und Vitalität des gegenwärtigen Schweizer Animationsfilms« bestmöglich wiederzugeben, lässt Gasser die Akteure der Szene vor allem selbst zu Wort kommen. Das Thema wird also weitgehend aus der Innenperspektive beleuchtet, bei Betonung der praktischen Aspekte. Darin liegt die große Stärke von animation.ch. Insgesamt zwanzig Filmemacher aus drei Generationen werden vorgestellt, darunter so bekannte Namen wie George Schwizgebel, Francois Chalet, Maja Gehrig oder Sam & Fred Guillaume oder fünf davon in ausführlichen Interviews mit dem Autor. »Die zwanzig ausgewählten Animationsfilmer repräsentieren die Eigenständigkeit und das breite Spektrum des heutigen Schaffens, vom experimentellen Kurzfilm bis zum Werbespot, vom Autorenfilm bis zur Fernsehserie für Kinder, vom Kinofilm bis zur Animation in der zeitgenössischen Kunst«, erläutert Gasser in seiner Einleitung. Und so findet man, neben eher traditionell anmutenden Arbeiten, auch Künstler wie Yves Netzhammer, der u.a. den Schweizer Pavillon auf der Biennale Venedig 2007 bespielte. Die eingesetzten Techniken sind so unterschiedlich wie die vorgestellten Persönlichkeiten. So bekommt der Leser nicht nur einen Einblick in die Methoden, Ideen und Herangehensweisen, sondern auch einen Überblick zu Animationstechniken »vom klassischen Zeichentrick über Knetanimation, Lege-, Sach- und Puppentrick bis zur Computeranimation«. Zwei Essays des Autors und ein Beitrag von Jochen Ehmann, über die Arbeit im Studiengang Animation an der Hochschule Luzern, sorgen für den erweiterten Kontext. Die Essays von Gasser sind, grob gesagt, der Vergangenheit und Zukunft gewidmet, weshalb man sie auch am Anfang und Ende des Buches, vor und hinter den Interviews und Portraits, findet. Ehmanns Beitrag, dessen Titel Lucerne Inbetweens Anleihen bei der Struktur eines Animationsfilms macht, sitzt dazwischen.
Vom Nischenmedium zum allgegenwärtigen Bildkonzept
Im ersten Essay beschäftigt sich Gasser mit der Entwicklung der Schweizer Animationsfilmszene seit den siebziger Jahren. Vor allem, so der Autor, habe sich das Interesse am Trickfilm und die Ausbildungssituation grundlegend geändert. Waren die frühen Animationsfilmer, wie etwa George Switzgebel, der elder statesman des Schweizer Animationsfilms, Autodidakten, so kommt die jüngste Generation gut ausgebildet, mit klareren Vorstellungen und einem funktionierenden Netzwerk aus dem Studium.
In dem den Band abschließenden Essay geht der Autor der gestiegenen Präsenz von Animationen in der digitalen Gesellschaft nach. »Vielleicht«, schreibt er, »sind wir uns noch gar nicht bewusst, in welchem Ausmaß animierte Bilder unsere Welt durchdringen.« Man erinnert sich: Vor einigen Jahren hatte die Firma Apple damit begonnen, Layoutelemente im MacOS Betriebssystem zu animieren; ein Konzept, das Schule machte. Mit Einführung des Webstandards HTML5 (die noch nicht abgeschlossen ist) erfuhr das Design von Webseiten eine allgemeine Dynamisierung und es genügt der Aufruf einer beliebigen Adresse im Internet, um festzustellen, dass Animationen heute vollständig in den digitalen Alltag eingedrungen sind. Nicht als Film, aber als Bewegtbild im weitesten Sinn. Das erlebt auch der Leser von E-Books mit ihren animierten Seitenübergängen oder Ein- und Überblendungen von Mediendateien. Dass es sich dabei nicht um eine Innovation handelt, sondern lediglich um die technische Realisierung eines Phänomens, dem ein anthropologisches Bedürfnis und eine grundlegende Funktion der Imagination unterliegt, darauf haben Kunstwissenschaftler wie Hans Belting hingewiesen (1).
Kurz, flexibel, frei
Gasser findet vier Bereiche, in denen die Animation besonders präsent oder innovativ ist: »Animation in Games, animierte Werbefilme, Musik und Animation, und das Bedürfnis nach animierten Kurz- und Kürzestfilmen, das die neuen Medien und der öffentliche Raum haben.« Für den neuerlichen Aufschwung der Animation macht er deren Flexibilität und Vielseitigkeit verantwortlich. Wegen der gegenüber dem Realfilm geringeren Naturnähe könne »der Animationsfilm freier mit Bewegungen, Zeitabläufen, Schnitten und Farben spielen.« Von den im E-Book enthaltenen Filmen sind etwa Jeu (2006) von George Schwizgebel oder Amourette (2009) von Maja Gehrig nur zwei ganz besonders überzeugende Beispiele dafür. Nicht an die physikalischen Gesetze gebunden, sei die Animation ästhetisch, technisch und erzählerisch völlig frei. Genau darin besteht ihre enorme poetische Relevanz, was Autorenfilmer wie Maja Gehrig zu Arbeiten im »Grenzbereich zwischen Narration und Experiment« motiviert. Zudem können die Bilder völlig virtuell sein. Anders als der Realfilm kommt die Animation ohne materielle Basis aus, welche dem Beschleunigungsparadigma der Nachmoderne eher hemmend entgegensteht. Auch wenn gerade der abendfüllende Animationsfilm nach wie vor eine extrem aufwändige Angelegenheit ist. Entsprechend optimistisch fällt Gassers Fazit für die kommenden Jahre aus: er nimmt an, dass die von ihm diagnostizierte Offenheit der Märkte mehr Raum für eigenwillige Experimente, wie sie auch für die frühen Pioniere wie Oskar Fischinger und Emile Cohl möglich waren, bieten wird. Stärker als bisher werden die Entwicklungen im angewandten Bereich aber auch für den künstlerischen Animationsfilm relevant werden.
Zwei Fragen, zwei Welten
Unter den Interviews ragt das mit Yves Netzhammer durch einen kategorialen Unterschied heraus, der zumindest in einer Hinsicht Zweifel an Gassers Optimismus aufkommen lässt. Netzhammer hat gezeigt, dass man 3D-Computertechnik auch ohne die penetrante Technik-Fixierung des Mainstream-Animationsfilms einsetzen kann. Er zählt zu den ganz wenigen, die, statt den Betrachter mit spektakulären Effekten und visuellem Firlefanz aus der Hyperrealismuskiste zu überwältigen, auf inhaltliche Konzentration setzen. Seine Szenarien sind karg, das Personal schematisch, die Animation reduziert – und manchmal etwas unbeholfen. Netzhammer: »… mich interessiert nicht, wie sich der Arm bewegt, sondern warum.« Darin äußerst sich ein fundamentaler Widerspruch gegen die industrielle Produktion, bei der es bekanntlich nie um das Warum? geht. Dass sich seine Haltung, wie der Künstler ergänzt, mittlerweile geändert habe, reduziert nicht das Gewicht der Aussage, in der ein ganz anderes Denken seinen Ausdruck findet. Ein Denken, in dem Kontextualisierung und kritische Reflexion, kurz: die Theorie eine zentrale Aufgabe hat. Dieses Denken ist unter Gestaltern – anders als in der Kunst – leider so gut wie unbekannt. Erst recht in den Disziplinen, die der Illustration nahe stehen, zu der die Animation ruhig gezählt werden darf – das belegt mehr als eine Filmerbiographie nicht nur aus dem vorliegenden Band. Von ästhetischer Theorie, Kunst- und Bildwissenschaft, Medienwissenschaft, Erzähltheorie usw. hat man bestenfalls gehört. Dabei kann gerade in der Animation auf eine gut ausgearbeitete Filmtheorie zugegriffen werden, auch wenn diese sich hauptsächlich mit dem Realfilm beschäftigt. In jüngerer Zeit wurde aber auch der Animationsfilm häufiger zum Gegenstand akademischer Untersuchung (2).
Weil in der theoretischen Auseinandersetzung ganz andere Fragestellungen auftauchen, werden völlig neue Ideen und Lösungen entwickelt. Und dann wird man auch nicht mehr bloß, wie ein großer Teil der hier vorgestellten Filmemacher, so diffus wie klischeehaft von der Magie der Animation sprechen. Gestalter sehen sich viel zu wenig als Forscher ihrer eigenen Profession. Zu dem vieldiskutierten »Wissen der Künste« haben die bildorientierten gestalterischen Fächer bislang kaum etwas beizutragen. Wie Netzhammer gezeigt hat, schlummert im künstlerischen Animationsfilm gerade in dieser Hinsicht ein ungeheures Potential. Jungen Filmemachern, die hier ein Betätigungsfeld sehen – es werden ohnehin sehr wenige sein –, werden sich dadurch kaum neue Marktchancen eröffnen, denn »in intelligible Welten auszuschweifen« gilt dem Mainstream, wie einst Horkheimer und Adorno feststellten, »als sinnloses Geplapper«.
Anmerkungen zum E-Book: epub3
Die Vorteile des E-Book liegen klar auf der Hand: statt lediglich Stills aus den besprochenen Animationsfilmen zu zeigen, kann man die Filme selbst anschauen. Andererseits vermisst man das schöne Layout des großformatigen Buches. Hier kann das E-Book wegen der durch die Reader vorgegebenen Größe und die Tatsache, dass E-Books layoutfreie HTML-Dateien sind, einfach nicht mithalten. Obwohl es mittlerweile möglich ist, E-Books im epub3-Format mit statischem Layout zu produzieren. Tatsächlich ist der Standard schon drei Jahre alt, wurde jedoch bislang kaum unterstützt. Magazine-Apps sind auch heute noch die einzige Alternative für layoutbasierte digitale Publikationen. Die muss man aber durch den Flaschenhals von Adobe und Apple schleusen – mit den damit verbundenen Kosten. Solchen Wegelagerer-Praktiken ist man beim offenen Standard E-Book glücklicherweise nicht ausgesetzt. Die Offenheit ist aber auch der Grund, weshalb die Durchsetzung am Markt von führenden Konzernen wie Apple und Amazon, deren Interesse der Verbreitung proprietärer Formate gilt, lange Zeit blockiert wurde. »Es gibt keine technischen und funktionalen Gründe, dass Amazon und Apple ihre E-Book-Welten mit proprietären E-Book-Formaten abschotten«, lautet denn auch das Ergebnis einer von der Uni Mainz im vergangenen Jahr veröffentlichten Studie zur Interoperabilität von E-Book (Download auf der Webseite der Uni Mainz hier). In diesem Jahr ist mehr Bewegung in die Verbreitung von epub3 gekommen, das Format wird auch in der aktuellen Version 4.0 des Adobe Digital Editions Viewer unterstützt, und scheint sich allmählich durchzusetzen. Nicht nur Publikationen wie animation.ch werden von diesem wichtigen Schritt profitieren, denn wegen der geringen Produktionskosten ist das Format auch für Kleinverlage und künstlerische Eigenpublikationen interessant.
Christian Gasser, animation.ch Benteli, 2014 Deutsch, 320 Seiten Videos und durchgehend farbige Abbildungen 20 x 27 cm ePUB www.benteli.ch