Seit den späten 1970er Jahren arbeitet Alexander Brodsky auf der Schnittstelle von Kunst und Architektur. Als Mitbegründer der russischen »paper architects« wurde er früh mit phantastischen Architekturentwürfen bekannt. Heute umfasst das Werk des international ausgezeichneten Künstlers Zeichnungen, Skulpturen, Installationen und Bauten. Die Tchoban Foundation, Museum für Architekturzeichnung, zeigt in ihrer aktuellen Ausstellung Arbeiten Brodskys aus über drei Jahrzehnten.
Der hierzulande vermutlich wenig bekannte Alexander Brodsky zählt zu den herausragenden zeitgenössischen Künstlern Russlands. 1955 in Moskau geboren, studierte er von 1968–1969 an der Moskauer Kunstschule und von 1972–1978 am Moskauer Architekturinstitut. Internationale Bekanntheit erlangte er zuerst durch die Zusammenarbeit mit seinem Studienkollegen Ilya Utkin. Von 1978–1993 entwarfen die »paper architects«1 utopisch-phantastische Bauten, mit denen sie Kritik an der staatlich kontrollierten Architekturmaschinerie der Breschnew-Ära übten. Brodsky und Utkin signierten ihre gemeinsamen Arbeiten mit dem Label BR:UT, reichten sie auf internationalen Wettbewerben ein und gewannen – zur eigenen Verwunderung, wie Alexander Brodsky in einem Vortrag in Bangkok 2013 erklärte.2 Ihr Entwurf Crystal Palace wurde mit dem ersten Preis der Japanese Central Glass Competition 1982 gewürdigt, weitere Auszeichnungen folgten in den Jahren darauf.
Nachdem sie den ersten Preis der East Meets West in Design Competition (New York, 1988) gewannen, wurden sie zu einer Reihe von Ausstellungen in die USA eingeladen, so etwa von der New Yorker Galerie Ronald Feldman Fine Arts im Frühjahr 1990.3 Nach Beendigung der Zusammenarbeit mit Ilja Utkin
konzentrierte Brodsky sich auf künstlerische Projekte, entwarf Plastiken und großformatige Installationen, und emigrierte 1996 in die USA, wo er bis 1999 blieb. Nach Russland zurückgekehrt, gründete er 2000 in Moskau sein eigenes Architekturbüro, das sich bislang mit kleineren Bauvorhaben hervorgetan hat. Seine Bauten korrespondieren mit der Tradition des Landes und den lokalen Bedingungen. Dabei verwendet Brodsky gerne einfache Materialien, bisweilen sogar, wie im Fall des temporären Pavillons aus Eiswürfeln (2003), auch sehr vergängliche. Daneben entstanden in den letzten Jahren das 95° Restaurant im Pirogowo Erholungspark nahe Moskau (2000), der Vodka Ceremony Pavilion für ein Kunstfestival (2004), ein Wohnhaus für eine Großfamilie nahe der Dichterstadt Tarusa (2006) oder ein Bus-Wartehäuschen für das österreichische Dorf Krumbach (2013). Im Jahr 2006 vertrat er Russland auf der Architektur Biennale Venedig. Er verfolgt aber auch weiterhin künstlerische Projekte. Seine Installation The Trip wurde 2010 mit einer der höchsten künstlerischen Auszeichnungen Russlands, dem Kandinsky-Preis, gewürdigt.
Kritik an den herrschenden Zuständen
Ende der 1970er Jahre war die Situation in Sowjetrussland für junge Architekten alles andere als ermutigend. Ein eigenes Architekturbüro zu gründen war praktisch undenkbar. Die staatlich verordnete sozialistische Massenarchitektur mit ihrer industrialisierten Einheitsbauweise bot keinen Freiraum für neue Ideen. Wer nicht gewillt war, in den wenigen großen Architekturbüros an einem ideologisch erstarrten Konzept mitzuarbeiten, verließ das Land – oder, wie Brodsky, Utkin und eine Reihe anderer Architekten, die Baustelle. Für ihre Unabhängigkeit verzichteten die »paper architects« nicht bloß auf die Umsetzung ihrer Ideen: sie erklärten ihre Zwangslage zur avantgardistischen Haltung und beabsichtigten gar nicht erst, Entwürfe für reale Gebäude anzufertigen. Frei von materiellen Zwängen und staatlichen Restriktionen widmeten sie sich einer phantastischen Architektur, um auf diesem Weg Kritik an den herrschenden Zuständen zu üben. In ihren konzeptionellen Projekten wandten sie sich gegen das Diktat einer totalitären Billigarchitektur, die den Blick für die Menschen, die darin Leben sollten, und ihre kulturelle Tradition, längst verloren hatte. Der unerwartet schnelle Erfolg der Bewegung bei internationalen Wettbewerben sorgte auch dafür, dass sie im eigenen Land wahrgenommen wurden. Bereits 1984 konnte man ihre Arbeiten in Moskau sehen;4 eine Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum wurde 1989 eröffnet.5
Alexander Brodskys Werk kreist um zwei herausragende Themen: das erste, die Zeichnung, betrifft die Methode, das zweite, die Zeit, den konzeptionellen Ansatz. Beide sind ineinander verschränkt. Bis heute verzichtet der leidenschaftliche Zeichner auf den Einsatz des Computers (den seine Mitarbeiter bedienen müssen), seine Arbeiten entstehen auf dem Papier, dessen Materialität in den dreidimensionalen Arbeiten eine Erweiterung erfährt. »Everything can be an extension of paper«, erklärte Brodsky auf der Pressekonferenz im Museum Tchoban. Das Thema Zeit hängt bei ihm mit einem schmerzlich empfundenen Verlust zusammen. Seit Jahrzehnten vollzieht sich in seiner Heimatstadt Moskau ein tiefgreifender Wandel, der ihn nachhaltig erschüttert hat. Historische Bauwerke gehen unwiederbringlich verloren, ersetzt durch gesichtslose sozialistische Standardarchitektur oder kapitalistische Allmachtsphantasien in Stahl und Glas.
Eine offene Wunde
Bereits in den 1984 und 1989/90 zusammen mit Ilya Utkin angefertigten Radierungen Columbarium und Columbarium Habitabile (Abb. oben, nicht in der Ausstellung) geht es um den Niedergang der Stadt. Das Columbarium Habitabile ist ein gigantisches Museum für verschwindende Architektur. Nach dem Vorbild der Urnen-Friedhöfe Südeuropas angelegt, sieht man riesige Wände mit Etagen von Fächern, in denen Häuser eingelagert sind. Es sind gerettete Bauwerke, deren Fortbestand jedoch nur solange gesichert ist, wie die Menschen bereit sind, ihr Heim in dieser musealen Umgebung weiter zu bewohnen. Gehen sie, verschwindet auch das Haus. Wie bei den Urnenfriedhöfen, wo Lebende sich der Verstorbenen erinnern, befinden sich auch im Columbarium die nur mithilfe der Lebenden erhaltenen Bauwerke; erst wenn die Bewohner ihr erinnerndes Handeln aufgeben, gehen die Bauten endgültig verloren. Das Columbarium ist ein nostalgisches Museum, eine Allegorie des Lebens im Bewusstsein ständiger Gegenwart eines angedrohten Todes, und das gerade aus dieser Nähe seine Intensität gewinnt. Der düster-melancholische Zug ist nicht nur in dieser Radierung unübersehbar, er ist die Form des avantgardistischen Aufbegehrens, die sich als tiefe Spur durch alle Arbeiten Brodskys zieht. Für den Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme ist »tendenziell […] jeder Melancholiker auch ein Häretiker oder Dissident. Sein Denken und seine Gefühle schweifen in Zonen des Tabus, der Sünde, der Unmoral, der Normlosigkeit«.6 Das melancholische Temperament gleicht einer offenen Wunde, die nie verheilt, immer brennt und einen erhabenen Schimmer über das Werk legt.
Angesichts der dystopischen Architekturszenarien, in denen nur wenige Protagonisten, von gewaltigen Steinmassen erdrückt, ein verlorenes Dasein fristen, werden viele Betrachter an den Italiener Giovanni Battista Piranesi (1720–1778) denken. Piranesi, der Mitte des 18. Jahrhunderts seine berühmten Carceri zeichnete, Visionen einer höllischen Kerkerarchitektur, hat mit dieser Serie ein ganzes Genre begründet. Und tatsächlich nennt Brodsky den Italiener ein bewundertes Vorbild und Quelle der Inspiration, tatsächlich war es die Begegnung mit Piranesi, die ihn dazu brachte, die Kunst der Radierung zu erlernen, die die melancholische Stimmung der Arbeiten noch verstärkt.7– Auch von Piranesis Hand existiert übrigens ein Columbarium.8
Brodskys Hang zum Vorläufigen und Vergänglichen begründet die Verwendung organischer Materialien von Holz bis Eis, ebenso wie die von gebrauchten Türen und Fenstern, welche bereits Spuren der Zeit aufweisen. Es überrascht auch nicht, wenn er sich den schäbigen und billigen Materialien zuwendet; typische Baumaterialien einer Nicht-Architektur oder Laien-Architektur, der Bastler und Heimwerker, der improvisierten Unterkünfte und Heimstätten, die gegen hegemoniale Normen und Reinheitsansprüche rebellieren. Seinen Bauten ist das Verschwinden bereits eingeschrieben, sie tragen den vorläufigen Charakter einer Zeichnung; mit den ärmlichen Materialien stellt er sich auf die Seite der Ausgestoßenen, die im Schatten ihrer Marginalität eine anarchische Praxis zum Erblühen bringen. Wie die Kunsthistorikerin Emma Dexter schreibt, gehören Widerstand und Melancholie seit der Romantik – in deren Tradition Brodsky steht – zu den bedeutenden Aspekten des zeichnerischen Ausdrucks.9
Ozeane kubistisch ineinander verkeilter Gesteinsquader
In der auf zwei Räume verteilten Ausstellung zeigt das Museum Tchoban Werke aus über drei Jahrzehnten. Die ältesten, Radierungen aus den 1980er Jahren, zeigen surreale Mensch-Architektur-Kombinationen, in denen Kopfbedeckungen zu Türmen auswachsen. Bei den aktuellsten Arbeiten, die im oberen Raum ausgestellt werden, handelt es sich nicht um Zeichnungen im üblichen Sinne. Vielmehr sind die Hausfassaden und Grundrisse, die der Künstler eigens für diese Ausstellung angefertigt hat, Reliefs aus ungebranntem Ton, ein Material, das Brodsky auch schon für größere Installationen verwendet hat. Verlassene Orte dominieren in den Zeichnungen wie den Reliefs. Man sieht Ozeane kubistisch ineinander verkeilter Gesteinsquader (1997, s.u.), menschenleere Fabrikbauten aus dem Zeitalter des Spätkapitalismus mit qualmenden Schloten (2012, s.u.), und die rasterförmigen Hausfassaden-Reliefs erinnern sämtliche an Gefängnisse. Menschliches Leben erkennt man nur an den hinterlassenen Spuren. In seinen künstlerischen Arbeiten zeigt Brodsky stets die Verbrechen, die der Mensch mit Hilfe der Architektur an sich selbst verübt, die Zwänge, denen er sich unterwirft. Glücklicherweise fehlt seinen eigenen Bauten dieser Zug völlig. In einem Interview erklärte Brodsky, er wolle einfach keine Dinge machen, die schrecklich sind und ihn sein Leben lang verfolgen werden.10
Das Material der Reliefs im zweiten Raum, die zweifellos den Höhepunkt der Ausstellung bilden, schlägt eine Brücke zwischen Zeichnung und plastischer Form: Die aufgeworfenen Oberflächen sind durchzogen von Rissen und Furchen, Linien also. Auf unheimliche Weise ähneln sie der geschundenen Haut Gefolterter, deren Leben, so scheint es, in diese Fassaden, die lebendig und tot zugleich sind, eingedrückt wurden – und es wird klar, wie sehr die Zeichnung als Ausdrucksmittel alle Gesten des Einzeichnens, Einschreibens, Eindrückens, kurz: das Hinterlassen von Spuren einschließt. »Zu zeichnen kann als Ausdruck unserer Menschlichkeit gesehen werden«,11 schreibt Emma Dexter.
Atmosphäre sakraler Beklemmung
Ein Ensemble von vierzehn kleinformatigen Arbeiten schließlich verweist noch einmal mit aller Deutlichkeit auf das Leben als immer schon vergangenes. Brodsky modelliert Grundrisse, aber was für welche! Bereits im Plan ist seine Architektur Ruine, archäologische Ausgrabungsstätte schon vor ihrer Entstehung. Dem Entwurf ist das Scheitern bereits eingeschrieben. Etwas optimistischer ließe sich anstelle von Scheitern von Vorläufigkeit sprechen. Aber genauso gut ist die Frage berechtigt, ob Brodsky hier nicht eine den Betrachter schonende Abkürzung einschlägt, in der Gewissheit, dass der Entwurf ohnehin nur Kerker gebären wird, weshalb es besser ist, das Drama, welches sich zukünftig darin abspielen wird, einfach auszulassen und direkt zum Stadium der Unschädlichkeit überzugehen, wo Phantasien sich des nie Gewordenen bemächtigen.
Die Wirkung der Arbeiten ist außerordentlich, den Raum füllt eine Atmosphäre sakraler Beklemmung, woran allerdings der Präsentationsrahmen nicht ganz unschuldig ist: denn das für Grafikausstellungen typische gedämpfte Licht unterstützt die entfremdende Wirkung. Auch die Räume selbst und der Museumsbau als Ganzes zahlen auf das Konto. Der massive, viergeschossige Bau auf dem Pfefferberg-Gelände am Eingang Christinenstraße, (mit-)entworfen von Sergei Tchoban, Stiftungsgründer, Architekt und Zeichner, ist eine Mischung aus Wachtturm und Grabkammer. Ohne Fenster wirkt er trotz der geringen Größe im Inneren labyrinthisch; düster das mit geradezu barockem Liniengeflecht ausgestattete Erdgeschoss, inspiriert vom Hochsicherheitstrakt das Treppenhaus. Die beiden Ausstellungssäle – nichts anderes als Schreine, die zweifelsfrei Kostbares bergen, dem Aufenthalt Lebender aber wenig Rechnung tragen. Eine gewisse Ironie ist der Ausstellung nicht abzusprechen.
Zur Ausstellung erscheint ein Katalog: Alexander Brodsky – Works Tchoban Foundation, Museum für Architekturzeichnung, Berlin 2015 in deutscher und englischer Sprache mit einem Essay von Brian Hatton Format: 168 x 235 mm Gebunden, 100 S., s/wPreis: 20,00 Euro www.tchoban-foundation.de
1 Neben Alexander Brodsky und Ilya Utkin werden auch Yuri Kuzin, Andrei Vovk, Igor Khatuntsev, Dmitry Bush und Sergei Chouklov sowie Yuri Avvakumov zu den russischen Papierarchitekten gezählt. Siehe hierzu den Artikel von Anna Sokolina, »In Opposition to the State: The Soviet Neoavant-garde and East German Aestheticism in the 1980s«, ArtMargins Online, Mai 2002. http://www.artmargins.com/index.php/archive/310-in-opposition-to-the-state-the-soviet-neoavant-garde-and-east-german-aestheticism-in-the-1980s
Das Projekt spatial agency der Sheffield School of Architecture erwähnt außerdem Michael Belov, Mikhail Flippov, Nadia Bronzova: http://www.spatialagency.net/database/why/political/paper.architects. — zurück
2 Alexander Brodsky, Between Art and Architecture, 31:25 min. The lecture was held on the occasion of 20th Anniversary Celebration of Faculty of Architecture, Kasetsart University, 21-30 August, 2013. Das Interview steht auf YouTube zur Ansicht: https://www.youtube.com/watch?v=2Vu1ZBjDcWk, —zurück
3 Feldman Gallery, Brodsky & Utkin, 24. März – 21. April 1990, http://www.feldmangallery.com/pages/exhsolo/exhbnu90.html, — zurück
4 »On 1 August 1984, the exhibition “Paper Architecture” was opened in the premises of the editorial office of the youth magazine Yunost, in Moscow, showing a selection of imaginative drawings and critical projects from more than thirty young architects.« Deterritorializing Utopia: “Paper Architecture” in Moscow, 1984, Andres Kurg, Abstract, https://deconstructingutopia.wordpress.com/abstracts/—zurück
5 Papierarchitektur. Neue Projekte aus der Sowjetunion
03. März –14. Mai 1989, http://www.dam-online.de/portal/de/Ausstellungen/Vergangenheit/1781/0/0/0/1594.aspx—zurück
6 Hartmut Böhme, »Kritik der Melancholie und Melancholie der Kritik«, in: ders., Natur und Subjekt, Frankfurt am Main 1988. II. Subjektgeschichte,Online-Fassung, S. 2. http://www.culture.hu-berlin.de/hb/static/archiv/volltexte/texte/natsub/melancho.html—zurück
7 Alexander Brodsky, Between Art and Architecture (18:27 min.). —zurück
8 http://de.wikipedia.org/wiki/Kolumbarium#/media/File:Piranesi-3026.jpg. —zurück
9 Emma Dexter: »Zeichnen ist menschlich«, in: Vitamin Z: Neue Perspektiven in der Zeichnung, Berlin: Phaidon 2006, S. 006 – 010, hier S. 006.
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10 Luise Rellensmann, »Wood, Paper, Vodka … and Ice. Alexander Brodsky’s Architecture recasts traditional Russian materials«, Uncube Magazine #10, http://www.uncubemagazine.com/magazine-10-9260515.html#!/page39—zurück
11 Dexter, S. 009.—zurück